Graphic Novel. Zur Popularisierung eines neuen Begriffs

Ein Wissenschaftslogbuch

Graphic Novel und Materialität (31.3.2017)

Von jenen auf der Homepage des Goethe-Instituts genannten pauschalisierenden und nicht trennscharfen Kriterien für Graphic Novels wollen wir uns heute jenem der Materialität als weiteres implizites Charakteristikum von Graphic Novels eingehender widmen.

Um bei Verleger_innen und Buchhändler_innen als Graphic Novel ‚durchzugehen‘, verlangt das künstlerische Produkt, so zeigt ein Blick auf die Distributionspraxis, nach einem denkbar einfachen Definitionskriterium – im Falle der Graphic Novels beispielsweise jene von Umfang und Format. In der Literatur ist ‚der Roman‘ die wohl wandelbarste Gattung im Spektrum literarischer Produktion – stehen doch Joyces Ulysses, Okopenkos Lexikonroman sowie Tolstois Krieg und Frieden in dieser Gattung zuerst einmal quasi gleichberechtigt nebeneinander. Angesichts der Fülle und Komplexität von Gattungstheorien (vgl. Zymner 2010)star (*20) erscheint es zumindest überraschend, Länge als dominierendes Merkmal für eine Gattung anzuführen – und doch lässt sich in der Distributionsstruktur von Graphic Novels dieses Kriterium beobachten: Um als Graphic Novel ‚durchgehen‘ zu können, braucht eine Bild-Text-Narration zunächst eine bestimmte Länge, und zwar mindestens 100 Seiten*3 *(3). Als Vorbild dient einmal mehr Spiegelmans Maus, von dem der Autor sagte, er wollte ein Comic schreiben, für das man ein Lesezeichen braucht (vgl. Spiegelman 2011: 42).star (*19) Zweitens muss die Bild-Text-Narration zwischen zwei Buchdeckel eingepasst werden, deren Seitenmaße rund A5 entsprechen, aber auf alle Fälle kleiner als A4 sind, damit keine Verwechslungsgefahr mit Comicalben besteht. Die Graphic Novel muss also ‚nach einem Buch aussehen‘, also Buchähnlichkeit suggerieren, damit sie überhaupt am ‚konventionellen‘ Buchmarkt wahrgenommen wird und damit für die Distribution in ‚herkömmlichen‘ Buchhandlungen nobilitiert ist.

Als eines der ersten Comics, das dementsprechend wahrgenommen wurde und folglich nicht primär den Comicmarkt, sondern allgemeiner den Büchermarkt durchdrang, gilt nach wie vor Maus – es wurde zu einem Crossover-Hit. Sein Format entspricht Konventionen des Buchmarkts, beispielsweise kann es in ein Bücherregal eingeordnet werden. Damit rangiert die Materialität des Objekts sehr weit oben in einem Kriterienkatalog. Umgekehrt bedeutet dies, dass eine Vielzahl von Comics von vornherein von der Kategorisierung als ‚Graphic Novel‘ ausgeschlossen sind, da sie scheinbar auf zu groß geschnittenem Papier veröffentlicht werden. Graphic Novels adaptieren ein Buch-Design, welches sich von der Flüchtigkeit der Comichefte (als ‚Wegwerfprodukte‘, also als Produkte, die nach einmaligem Lesen entsorgt werden*4 *(4)) einerseits und von dem Comicalbum andererseits unterscheidet: Im franko-belgischen Raum etablierte sich das Comicalbum in der Nachkriegszeit mit einem fixen Format von 48 oder 64 Farbseiten, Hardcover-Umschlag und einer sich A4 annähernden Größe. Dieses besonders in den 1990er-Jahren als Mainstream-Produktionen inkriminierte Format wurde von avantgardistischen Comicverlagen im franko-belgischen Raum bereits ab den 1970er-Jahren aufgelöst. Interessant ist hier beispielsweise die Linie 30 × 40 – der Name bezeichnet gleichzeitig das Format – des französischen Avantgarde-Verlags Futuropolis, der bereits in den 1980er-Jahren Autorencomics in ungewöhnlichen Formaten vertrieb. Florence Cestac, Comicautorin und Mitbegründerin von Futuropolis, beschreibt das ungewöhnliche Publikationsformat von Futuropolis als UFO: „Während Comics nur im Format 48 Seiten, Hardcover, Farbdruck gedacht wurden, schufen wir ein UFO.“ (Cestac 2007: 32)star (*4)

Während die Literaturwissenschaft in Gattungsfragen wenig Augenmerk auf Fragen der Materialität legt, entscheiden im Feld der Comicproduktion Aspekte wie Länge, Seitengröße, Farbdruck/Schwarzweiß-Druck über Klassifikationen. Damit zeigt sich, dass Materialität Exklusion produziert. Aspekte der Materialität als normative Kriterien zu zählen, ist aus unserer Sicht nicht zuletzt deshalb problematisch, da es sich gegen die Geschichte des Mediums stellt: Während im Laufe der Jahre im Comicbereich durchaus mit verschiedenen Formaten experimentiert wurde, wie das Beispiel von Futuropolis zeigt, wird die Materialität des Objekts mittlerweile an normgenerierende Bedürfnisse von Buchregalbesitzern und Buchhandlungen angepasst. Das ursprünglich der Mainstream-Produktion entgegengesetzte und als Neuerung gefasste Format der Graphic Novel erweist sich spätestens als normativ, wenn man es mit Avantgarde-Produktionen aus dem Comicbereich vergleicht. Gegen Jan Baetens Beschreibung einer Entwicklung des Comics hin zur Graphic Novel als Evolution (vgl. Baetens 2011: 1140)star (*1) lässt sich einwenden, dass dies eine Abwertung der vorhergehenden Flexibilität des Mediums in Abrede stellen würde; Baetens Sichtweise ist folglich mit Skepsis zu betrachten.

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Baetens, Jan (2011): Graphic novels. In: Cambridge Histories Online, Cambridge University Press. Online unter: https://doi.org/10.1017/CHOL9780521899079.075(23.03. 2017)

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Spiegelman, Art (2011): MetaMaus. New York: Pantheon books.

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Zymner, Rüdiger (2010): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: Metzler.

Zu einer sozioanalytischen Perspektivierung des Begriffs ‚Graphic Novel‘ sowie zu Prozessen der Autonomisierung innerhalb des Feldes der Comicproduktion siehe Becker 2010.

Die von Richard Kyle bereits 1964 vorgenommene Verwendung des Begriffs war Eisner nicht bekannt. (Groensteen 2012)

Es gibt keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Aspekt; diese Schätzung basiert auf Beobachtungen und Erfahrungsberichten von österreichischen Comicschaffenden.

Ein zeitgenössisches Beispiel ist jener Teil der japanischen Manga-Produktion, den Leser_innen unter anderem am Morgen in der U-Bahn am Weg zur Arbeit lesen und anschließend entsorgen – ähnlich wie im Falle von kostenlosen U-Bahn-Zeitungen hierzulande.

Die humoristischen Comics aus dem Umfeld der  Revue Spirou bzw. der sogenannten Marcinelle-Schule werden oftmals als ‚Comics mit großen Nasen‘ bezeichnet. Die Comicrevue Journal de Tintin, welche sich in Konkurrenz zu Spirou befand und vornehmlich Comics von Hergé und Edgar P. Jacobs veröffentlichte, setzte hingegen auf einen ernsteren, ‚literarischen‘ Ton (Delisle 2007: 131).

Bettina Egger, Johanna Öttl ( 2017): Graphic Novel. Zur Popularisierung eines neuen Begriffs. Ein Wissenschaftslogbuch. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/graphic-novel-zur-popularisierung-eines-neuen-begriffs/