Graphic Novels sind nicht ‚lustig‘! (6.4.2017)
Nachdem wir uns im vorigen Beitrag der Frage der Materialität gewidmet haben, betrachten wir ein zweites Kriterium, welches als Klassifikationsmerkmal für Graphic Novels herhalten muss (wie z.B. aus obigem Definitionsversuch von Sebastian Oehler auf der Webseite des Goethe-Instituts hervorgeht): die Ernsthaftigkeit des Inhalts. Auch Jan Baetens postuliert in seinem Aufsatz Graphic novels eine Gegenüberstellung von ‚lustigen Comics’ und ‚Graphic Novels’ und verbindet damit das Kriterium der (Nicht-)Literarizität des Mediums: „[…] they [Comics] focus less on storytelling than on comic effects, and this foregrounding of gag and slapstick reinforces their anti-literary character.“ (Baetens 2011: 1139) (*1) Diese Distanzierung zu allegierten Humorcomics bzw. Comics im Allgemeinen verweist auf die Wurzeln des ‚Comics‘ im humoristischen Comicstrip, als Produkt der Entertainment-Industrie und als Massenprodukt: Die amerikanischen funnies, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Presse auftauchten, tragen die Verzahnung von Humor und kulturellem Massenprodukt in sich. Ein Beispiel wäre Richard F. Outcaults berühmter Strip The Yellow Kid (1895), welcher der Yellow Press ihren Namen gegeben hat. Yellow Kid ist ein Lausbub in gelbem Nachthemd, dessen Gang sich in einem New Yorker Slum herumtreibt und der in einem eigenartigen Idiom spricht. Die unterschwellige Sozialkritik in The Yellow Kid wurde in der Rezeption des Comics oft vergessen: Der Comic avancierte zur Ikone des sogenannten yellow journalism und wurde folglich mit der reißerischen Berichterstattung in der Yellow Press, die geringen Wert auf Sozialkritik legt, in Verbindung gebracht (vgl. Harvey 2016). (*13)
Indem Baetens in seiner Definition die Graphic Novel von ‚lustigen Comics‘ abgrenzt, ohne dabei die gemeinsamen Wurzeln zu bedenken, konstruiert er verschiedene Entwicklungen des Comics und der Graphic Novel – die Genese der Graphic Novel bezieht er damit auf eine andere Tradition und zwar „that of visual print culture and visual storytelling by way of engraving. This tradition is much older than the comics, which started at the end of the nineteenth century […]“ (Baetens 2011: 1138). (*1) Nun zeigt jedoch bereits ein erster kursorischer Blick, dass selbst Rodolphe Töpffer, den Baetens als einen der Gründungsväter von „graphic literature“ nennt (ebd.: 1138), (*1) dem Humor nicht abgetan war: Seine Bild-Text-Erzählung Histoire de Monsieur Jabot (1833) zeigt – von Molières Le Bourgeois gentilhomme inspiriert – die Abenteuer des bürgerlichen Monsieur Jabot, eines eitlen Einfaltspinsels, der (vergeblich) versucht, sich in aristokratische Kreise zu mengen. Indem Baetens das Kriterium der ‚Ernsthaftigkeit‘ (wohl gleichbedeutend mit ‚ernstzunehmend‘ bzw. ‚nicht komisch‘) postuliert, disqualifiziert er eine Schreibweise als Marker für Literarizität. Wenngleich eine derartige Distinktionsstrategie auf den ersten Blick überrascht, zeigt sich hier eine gewisse Kontinuität innerhalb der Bewertung von Comics. So wurden innerhalb des Bereichs des franko-belgischen Comics der 1960er und 1970er-Jahre die als ‚literarisch‘ konnotierten Comics von Hergé (Tintin alias Tim und Struppi) oder eines Edgar P. Jacobs (Blake und Mortimer) den als trivialer dargestellten Humorcomics (Comics ‚mit großen Nasen‘*5 *(5)) gegenübergestellt.
Bettina Egger, Johanna Öttl ( 2017): Graphic Novel. Zur Popularisierung eines neuen Begriffs. Ein Wissenschaftslogbuch. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/graphic-novel-zur-popularisierung-eines-neuen-begriffs/