HipHop Linguistics, Street Culture und Ghetto-Männlichkeit

Zur Bedeutung von postmigrantischem HipHop in Österreich

HipHop Linguistics der postmigrantischen Rapper

Sprache ist das omnipräsente Medium des HipHop, weil sich über das Rappen kulturelle Praktiken ausdrücken und konstituieren und die Rap-Songs mit ihren „Rhymes“ eine spezifische Form der sprachlichen Kreativität verkörpern sowie auf den Wettbewerb der RapperInnen verweisen. Samy H. Alim (2009: 5)star (* 1 ) beschreibt die Sprachpraktiken der RapperInnen weltweit als HipHop Linguistics, die in den USA  zur Entstehung einer „HipHop Nation Language“ geführt haben und Prozesse der Transformation, Rekonfiguration und Aneignung durchlaufen und in lokalen Kontexten unterschiedliche Ausprägungen erfahren. In die globale Kulturindustrie wird jedoch keine abstrakte Sprache eingespeist, es handelt sich dabei vielmehr um spezifische Sprachformen, -genres und -praktiken der HipHop Linguistics (Alim 2009: 6)star (* 1 ). Dass in diese Sprachpraktiken auch widerständige Momente eingelagert sind, zeigt Russell A. Potter in seinem Buch „Spectacular Vernaculars“ (1995)star (* 22 ). Er konzipiert afroamerikanische Rap-Songs als „resistance vernacular“, womit er eine Form der widerständigen Minderheitensprache beschreibt, die die Regeln der Intelligibilität der dominanten Sprache verformt und repositioniert. Diese Widerständigkeit scheint vielen Rap-Songs heute durch Misogynie, Sexismen, Homophobie und Gewaltverherrlichung verloren gegangen zu sein. Dennoch, argumentiert Tony Mitchell (2003)star (* 18 ), lässt sich der Einsatz von Dialekten und Minderheitensprachen im HipHop in spezifischen lokalen Kontexten als Beispiel für „resistance vernacular“ verstehen. Wie entwickeln nun die postmigrantischen Rapper in Österreich eine lokalisierte Variante der HipHop Linguistics?

Esref Balkan, Nasihat Kartal und iBos verwenden für ihre Songtexte Türkisch und/oder Deutsch bzw. Wienerisch. Dass sie diese Sprachen wählen, lässt sich auf ihre kulturelle Sozialisation in der Kindheit und Jugend zurückführen. Ihre Eltern hören, wie viele MigrantInnen, die Musik ihrer Herkunftsländer im Radio und Fernsehen zu Hause, bei Autofahrten oder Festen, und sie sprechen in der Privatsphäre ihre Muttersprache. Diese Räume, die u.a. durch Sprache und Musikkonsum konstituiert werden, verweisen auf kulturelle Differenz, soziale Grenzen und die geografische Distanz zwischen Österreich und dem Herkunftsland der Eltern, der Türkei. Für Esref Balkan, Mitbegründer der in Wien ansässigen HipHop-Crew Eastblok Family, erlangte zudem der Wiener Dialekt eine besondere Bedeutung, weil sich sein Vater, zusätzlich zu türkischer Volksmusik, auch für österreichische Popmusik interessiert und in den 1970er und 1980er Jahren die Musik von Wolfgang Ambros, Georg Danzer oder Rainhard Fendrich hörte. Die „Austropopper“ bedienen sich des Wiener Dialekts, der Sprache der ArbeiterInnenschicht, die vorrangig in Bezirken wie Favoriten, Simmering, Meidling, Ottakring oder Brigittenau gesprochen wird, in denen heute zunehmend auch MigrantInnen leben. Deutsch bzw. Wienerisch und Türkisch sind die Alltagssprachen der Rapper – diese Multilingualität verweist auf ihr kulturelles Erbe der „parent culture“ sowie auf ihre Sozialisation und ihre gesellschaftliche Position in Österreich. Diese beiden Sprachen nutzt Esref Balkan, um die gewünschten Inhalte und Emotionen in den Rap-Songs zu transportieren:

Wenn ich auf Wienerisch […] rappe, dann kann ich eigentlich das Gleiche sagen, wie wenn ich auf Türkisch rappe, weil ich genauso mit Emotion auf Wienerisch rede […]. Das Wienerische ist einfach dieses Dreckige, dieses Tiefe, dieses ,Heast Oida‘ und so. Wenn ich das auf Hochdeutsch sage, das kommt nicht so rüber, wie ich es sagen will. Für mich ist Wienerisch auf jeden Fall sehr wichtig. (Esref Balkan)

Neben der Kultur der Eltern und der österreichischen Popularkultur waren in der Kindheit und Jugend der Rapper vor allem US-amerikanischer HipHop und später deutsch- und türkischsprachiger Rap aus Deutschland, Letzterer vor allem von Cartel mit dem Lied Türksün (Ich bin Türke), prägend. Durch den Konsum von HipHop konnten Esref Balkan und der in Salzburg lebende Rapper Nasihat Kartal in der Jugend ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Musikszene und eine eigene Sprache entwickeln – eine Körpersprache durch das Breakdancing sowie eine visuelle Sprache durch das Sprayen von Graffitis –, die sie später durch das Verfassen eigener Songtexte und das Rappen erweiterten.

Diese Sprach- und Musiksozialisation durch drei Kulturen – die „parent culture“, die österreichische Popularkultur und die HipHop-Kultur (vgl. Horak 2003: 184)star (* 15 ) – ist für die Herstellung eines „dritten Raums“ wesentlich, weil die festgelegten Bedeutungen und die Symbole der türkischen wie der österreichischen Kultur hinterfragt und ein- und dieselben Zeichen neu übersetzt und rehistorisiert werden können (vgl. Bhabha 2000: 57)star (* 5 ) sowie die globale HipHop-Kultur in den lokalen Raum eingebettet und variiert werden kann.

Exemplarisch zeigt sich dieser Übersetzungs-, Rehistorisierungs- und Lokalisierungsprozess im Song Unkraut von Esref Balkan, der in Anlehnung an das Austropop-Lied Die Blume aus dem Gemeindebau (1977) von Wolfgang Ambros entstand, jedoch nicht von einer begehrenswerten Frau erzählt, die im kommunalen sozialen Wohnbau der Stadt Wien lebt. Im Song Unkraut (2010) heißt es (Auszug aus den Lyrics):

Heast Hawara ned deppat sein, sei gusch und hoit die Pappn,
weil sonst kumm i mit de Leit und du beruhigst di auf die Gachn,
des is Simmeringer Tiarkn-Rap, jeder in ana Wachn,
oida wüst das ned verstehn oder muass i di erst watschn?
[…]
Mir hobn kane Bluman, sondern Unkraut im Gemeindebau,
und wenn da des ned passt, is ka Problem, donn konnst di schleichen a,
die Zeiten san vorbei, schau mir san do olle versammelt,
wie die Toten am Zentralfriedhof, die Rosn a vergammelt.
[…]

Das Lied thematisiert das Leben und den Kampf um Anerkennung der postmigrantischen HipHopper, die in einem Wiener Gemeindebau in Simmering aufgewachsen sind, als „Unkraut“ beschimpft werden und ihr Territorium verteidigen. Mit dieser inhaltlichen Ausrichtung wird die österreichische Mehrheitsbevölkerung mit der Lebensrealität der postmigrantischen Musiker konfrontiert und die gängige Vorstellung über das Leben der ArbeiterInnenschicht im Gemeindebau infrage gestellt. Die Lebensrealität dieser Jugendlichen ist u.a. geprägt durch individuelle und strukturelle Benachteiligung, Rassismus- und Gewalterfahrungen, denn sie werden – obwohl sie in Österreich geboren sind – aufgrund äußerlicher Erscheinungsmerkmale, ihrer Namen oder sprachlicher Akzente nicht als ÖsterreicherInnen wahrgenommen. Diese Erfahrungen spielen für die Selbstpräsentation und -stilisierung der HipHopper eine bedeutende Rolle. Sie bezeichnen sich als „Türken“, „Ausländer“ und „Kanaken“ und stilisieren sich in ihren Songtexten und Videos als potenziell gewaltbereite junge Männer. Diese Selbstpräsentationen und die, wenngleich überspitzte, Beschreibung ihrer Lebensrealität erlaubt den Rappern „Realness“ und Authentizität zu verkörpern, womit sie einem im HipHop zentralen Motto folgen: „Keeping it real means keeping it culturally local“.

Durch diese Strategien – die Herausforderung der Vorstellungen der Mehrheitsbevölkerung über das Leben im Gemeindebau, die Aneignung von Schimpfwörtern bzw. zugeschriebenen Begriffen und das Ringen um Selbstdefiniton und -bestimmung – entwickeln die Rapper eine lokalisierte Variante der HipHop Linguistics. Sie lässt sich als eine widerständige Alltagssprache verstehen, weil sich die HipHopper am diskursiven Kampf um die Bedeutung von Zeichen und Symbolen beteiligen. Sie produzieren „oppositionelle Codes“ und konstruieren eine „in-between“-Position, „always unsettling the assumptions of one culture from the perspective of another, and thus finding ways of being both the same as and at the same time different from the others amongst whom they live” (Hall 1995: 206).star (* 11 )

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