„Ich sehe meine Arbeit als eine Irritation im Alltag weißer Subjekte.“

Ein Gespräch mit Carla Bobadilla über Kunstvermittlung als anti-diskriminatorische Praxis.

Also dass die Studierenden auch mit ihren individuellen Voraussetzungen einsteigen können? Wie funktioniert das konkret?

Da merke ich immer, dass ich an meine Grenzen komme, weil ich ja keine pädagogische Ausbildung habe. Ich muss immer im System einer Klasse schauen, wie sich die Menschen verbinden lassen und verbunden bleiben, die aus einer akademischen Familie kommen, mit Menschen, die das nicht haben. Wie schaffen wir, dass nicht nur Lehrende und Lernende voneinander lernen, sondern die Studierenden von sich auch untereinander lernen. Da nehme ich einen Begriff, den ich zum ersten Mal bei einer Aktivistin aus Barcelona gehört habe: Das Konzept der Interdependencia. Unabhängigkeit, oder?

Vielleicht eher: gegenseitige Abhängigkeit, oder einfach Gegenseitigkeit …  

… Gegenseitigkeit, genau. Wie funktioniert das zwischen ihnen? Wie helfen sie sich gegenseitig, Sachen zu verstehen?

Wie kann man eine Atmosphäre schaffen, wo das funktioniert?

Wichtig dafür sind für mich gleichzeitig eine bestimmte Empathie und Sensibilität, um zu schauen, wo die Stärke der Schwächeren liegt und diese heraufzuheben. Es gibt Menschen, die funktionieren organisatorisch wahnsinnig gut, oder es gibt Menschen, die komplizierte Zusammenhänge in leichteres Deutsch übersetzen. Dann kann man mit der leichten Übersetzung statt der schwierigen Version arbeiten und dieser leichten Übersetzung eine Wertigkeit geben.

Wie stark versuchst du, durch deine Art zu sprechen, dein Auftreten oder die Gestaltung des Unterrichts, das zu transportieren?

Das ist ein komplizierter Punkt. Es ist nicht leicht. Ich habe eine Arbeitskollegin, die immer einen Arbeitskittel trägt, wenn sie in solchen Lehrsituationen ist. Ich denke, es wäre manchmal viel leichter, wenn ich so etwas haben könnte. Da würde mein Auftreten etwas neutralisierter wirken. Es geht aber nicht nur um das Aussehen oder die Kleidung, sondern auch überhaupt um die Form, wie du sprichst oder du den Unterricht gestaltest. Ich habe mir nach dem ersten Semester an der Akademie jetzt auch überlegt, dass ich innerhalb der Zeit der Lehrveranstaltung Einheiten dafür verwenden möchte, um gemeinsam zu essen. Es gab nämlich sehr komische Situationen, wo zu Beginn der Lehrveranstaltung ein Teil der Studierenden mit Kebab, Sushi und Pizzaschnitte gekommen ist und die andere Hälfte hatte nichts. Dann war eine Pause und die Gruppe, die davor noch nicht gegessen hatte, hat nach der Pause noch gegessen oder sie haben sich versteckt unter dem Tisch etwas geholt und heimlich gegessen. Das ist jetzt nur auf das Essen bezogen, aber das sind Momente, wo du richtig achtgeben musst.

Und wie gehst du auf solche Momente ein?

Wir integrieren es. Wir sagen jetzt von Anfang an, dass wir zwischen zwei und drei essen werden. Machen wir das Essen zu einem Teil der Lehrveranstaltung! Das heißt, wir sprechen über das Essen, was wir gerne essen, wo wir es kaufen, wie viel Zeit wir dafür verwenden. Das sind solche Situationen. Der Raum ist auch wichtig. Für mich ist die Raumsituation sehr wichtig. Wie funktioniert mein Körper in dieser Raumsituation? Diese Lehrveranstaltungen sind ja lang. Ich habe zum Teil vier Stunden hintereinander. Das heißt, ich muss auf den Körper achten. Wann bin ich müde? Wann kann ich nicht mehr? Es muss möglich sein zu sagen, wenn ich eine Pause brauche, wenn wir Luft brauchen, das Licht zu stark ist. Auf solche körperlichen Befindlichkeiten zu achten, ist wichtig. Wenn du in dieser lehrenden Rolle bist, dann vergisst du oft, dass du selbst trinken musst oder selbst eine Pause brauchst. Ich denke, es ist grundsätzlich eine Voraussetzung, auf den Körper zu achten, um überhaupt ein gutes Setting zu schaffen. Ich habe das auch mit den Arbeitsaufgaben gemacht. Ich habe gesagt, dass es eine Abschlussarbeit gibt, die innerhalb der nächsten zwei Monate abgegeben werden muss. Ich habe nicht gesagt, wann, sondern ich wollte, dass die Studierenden mir einen Termin nennen, wann sie gerne abgeben möchten. Dann müssen sie sich aber auch daran halten. Es ist egal, ob sie das am ersten Tag im ersten Monat machen oder am letzten Tag vom zweiten Monat. Aber sie sollen sich daran halten. Es geht darum, diese Freiheit zu geben und gleichzeitig zu sagen, dass sie ihre eigenen Grenzen setzen und dabei verantwortlich bleiben sollen.

 

Marcel Bleuler, Carla Bobadilla ( 2019): „Ich sehe meine Arbeit als eine Irritation im Alltag weißer Subjekte.“. Ein Gespräch mit Carla Bobadilla über Kunstvermittlung als anti-diskriminatorische Praxis.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/ich-sehe-meine-arbeit-als-eine-irritation-im-alltag-weisser-subjekte/