Im Gehen

Barfuß trat Amalie Seidel, Arbeiterin in der Appreturfabrik*1 *( 1 )  Heller und Sohn, auf die Gumpendorferstraße in Wien. Es war der 1. Mai 1893. „Die Arbeitszeit war von 6 Uhr früh bis 7 Uhr abends. Zum 1. Mai 1893 hielt Seidel im großen Fabriksaal während der Jausenpause eine Rede, forderte die Arbeiterinnen zur Organisation auf, um den arbeitsfreien 1. Mai durchzusetzen und eine Verkürzung der Arbeitszeit von 13 auf 10 Stunden zu fordern. Sie wurde fristlos entlassen. ‚Und momentan, so wie die Arbeiterinnen gingen und standen, barfuß, der großen Hitze wegen, die in manchen Arbeitsräumen herrschte, nur halb bekleidet, mit Kaffeekannen oder dürftigem Mittagessen‘ traten 700 Arbeiterinnen aus vier Appreturfabriken in Gumpendorf in Streik, versammelten sich in Meidling auf der Ferdinandwiese. In der Gumpendorfer Bierhalle wurde dann das Ende des Streiks gefeiert. Dieser Streik der 700 ging als erster Frauenstreik in die Geschichte der Frauenbewegung ein.“ (Krasny 2008: 162)star (* 5 )
Die demonstrierenden Körper der Frauen gingen auf die Straße. Sie trugen ihr Wissen um die direkten Wirkungen der Industrialisierung protestierend in die Stadt. Jeder ihrer Schritte galt der Ausbeutung, der Ungerechtigkeit, der Veränderung.
Die wissenden Schritte protestierten.

Das Gehen ist der Schlüssel zum Wissen in der Stadt. Die Lage wird zur Analyse. Die Konsequenzen liegen bei den Handelnden.

Die Stadt der Nach-Industrialisierung, die post-fordistische Stadt, setzt die Körper wieder in Bewegung. Diese Stadt, die die Stadt der Gegenwart ist, tritt unter vielen Namen auf. Sie ist die Stadt des Wissens. Sie ist die Stadt der Kommunikation. Sie ist die Stadt des Branding. Sie ist die Stadt der Gentrifizierung. Sie ist die Stadt der Governance. Sie ist die Stadt der Produktion und der Konsumption. Sie ist die Stadt der Sicherheit und der Überwachung. Sie ist die Stadt der Krisen und der Manifestationen.

In der historischen Distanz zum Publikationsjahr 1845, als Die Lage der arbeitenden Klasse in England erschien, erweisen sich die Zusammenhänge zwischen der auf Gehen beruhenden Wissensproduktion, der Entwicklung der in Industrialisierungstransformation befindlichen Stadt und ihrer räumlichen wie sozialen Kritik als etabliert. Ob sie zeitgleich als eindeutige Zusammenhänge einsichtig waren, lässt sich im historischen Rückblick nicht mehr ausmachen. Die eigene Gegenwart zeichnet sich durch Nähe aus. Die Bewegungen sind noch nicht in ihrer konturierten Klarheit der historischen Lektüre hervorgetreten, sie sind in Verhandlung, sie gehen weiter, sie schreiben sich ins Jetzt ein.

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts schickte der Schriftsteller und Filmemacher Patrick Keiller einen fiktiven Mann namens Robinson auf die gehende Erkundungsreise in das Land des Neoliberalismus, das auch unter dem Namen Gegenwart bekannt ist. „In March 2009, pressed for a preliminary description of the film, I offered ‚In early 2008, a marginalised individual sets out to avert global catastrophe hoping to trigger the end of neoliberalism by going for a walk.‘“ (Keiller 2012: 12)star (* 3 ). Das Gehen führt ins Wissen. Es verbindet die fehlende Kunst der Regierung in der Stadt London, die globalen Kapitallogiken, die Ressourcenausbeutung, die Geschichte des Öls im Iran und die Geschichte der Entstehung von British Patrol, einen Meteoriteneinschlag, die Installierung von US Militärbasen.
Das fiktionale männliche Subjekt namens Robinson, das Keiller als Anlass für seine Sammlungen und Berichterstattungen konstruiert hat, geht durch die bedrückenden, prä-katastrophalen Fundstücke der Zeit, die die Zusammenhänge zwischen Kriegslogik, Gesellschaftsentwicklung und industrialisierter Landwirtschaft in die neoliberale Gegenwart der Ausgebeutetheit aller Ressourcen führen. Das Gehen hat Methode. Ab dem Jahr 1842 lebte Engels in Manchester, er ging der Lage nach, er analysierte. Im Jahr 2009 tauchte das fiktionale Subjekt namens Robinson, das Keiller bereits in den Jahren zuvor auf seinen unerbittlichen Erkundungen begleitet hatte, wieder auf. Er begann, der Lage in England nachzugehen. Der letzte Satz seiner dystopischen Erkenntnisse aus dem Gehen in die Gegenwart führt dann doch nochmals in eine utopische Wendung: „On 17 October, when Robinson revisited the ruined cement works, he encountered a moment of experiential transformation. A few days later, he made contact with our research team. He proposed that we establish an experimental settlement: in spaces of extraordinary biomorphic architecture, we would devise ways to reform land ownership and democratic government; we would pioneer the renewal of industry and agriculture, after the decline oft he global dollar, and the disappearance of cheap oil.“ (Keiller 2012: 63)star (* 3 ).

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Donald, James (1999): Imagining the Modern City. Minneapolis: University of Minnesota Press.

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Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik, Berlin: Merve Verlag.

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Keiller, Patrick (2012): The Possibility of Life’s Survival on the Planet, London: Tate Publishing.

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Krasny, Elke (2011): Hong Kong City Telling. Reclaimed. Redeveloped. Resumed. Resubjectivated. In: Urbane Räume: Zwischen Verhandlung und Verwandlung. Kulturrisse, Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik, Heft 2/2011, Wien: IG Kultur Österreich.

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Krasny, Elke (2008): Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien, Wien: Metro Verlag.

Veredelung von Geweben.

Elke Krasny ( 2013): Im Gehen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/im-gehen/