Jenseits der Differenz

Ein Gespräch über Kollaboration

Benjamin: Aber es muss ein ziemliches Gefälle geben zwischen den Menschen in einer Konfliktregion und euch, die aus einem sicheren westlichen Sozialstaat kommen. Ich stelle mir vor, dass es in euren Projekten auch um eine Art humanitäre Hilfe geht. Oder wie stellt ihr euch innerhalb eurer Projekte selber dar? Und wie gehst du mit dem Gefälle konkret um?

Marcel: Mit dem Versuch, möglichst selbstkritisch und sensitiv zu sein und trotzdem an der Zusammenarbeit gerade auch unter den ungleichen Vorzeichen festzuhalten. Ich würde meinen Beitrag zu den Projekten in Georgien nicht als humanitäre Hilfe bezeichnen, das weckt falsche Assoziationen. Die lokalen Beteiligten sind nicht in akuten Notsituationen. Sie verfügen zwar meist über wenig Mobilität und Ressourcen und leben in geopolitisch fragilen Situationen, aber sie haben zum Beispiel auch Smartphones und sind bestens über das Internet vernetzt. Mich stört auch der Begriff der Hilfe. Ich bin nicht in der Position, helfen zu können, außer vielleicht, dass wir für unsere Projekte Gelder beantragen und mitbringen können. Maja Leo, die auch für artasfoundation arbeitet, sagt immer, dass die Umverteilung von Geld wichtig sei. Das glaube ich auch, vor allem wenn man bedenkt, dass wir allein schon über die Nahrungs- und Textilindustrie global verkettet sind und Ungleichheit letztlich täglich ausnützen. Zugleich fühlt es sich nicht gut an, wenn man als „Geldbringer“ behandelt wird. Ich glaube aber, dass man mit dem eigenen Verhalten schon die Möglichkeit hat, das zumindest teilweise abzuwenden. Ich versuche, mich nicht als Repräsentant der westlichen Wohlstandsgesellschaft zu verhalten und ebenso wenig die lokalen Beteiligten als Repräsentanten, zum Beispiel als „Kriegsbetroffene“, zu adressieren. Wenn es um die Organisation und um Entscheidungen geht, dann macht sich das Gefälle, das du ansprichst, immer wieder bemerkbar. Aber sobald man anfängt, mit Leuten stundenlang auf einen Techniker zu warten, oder wenn man nach dem Essen plötzlich zusammen singt, oder wenn man sich gegenseitig beobachtet beim Fotografieren oder Zeichnen, dann kann eine Menschlichkeit jenseits der Differenz und des Gefälles zum Tragen kommen.

Skulptur-Workshop im Vorfeld des Tskaltubo Art Festival, Tskaltubo (GEO), 2015. Foto: Natela Grigalashvili

Skulptur-Workshop im Vorfeld des Tskaltubo Art Festival, Tskaltubo (GEO), 2015. Foto: Natela Grigalashvili

Benjamin: Ich denke, es hat mit Offenheit zu tun – wie man dem Anderen begegnet. Wenn eine Begegnung tatsächlich stattfindet, gibt es den Anderen als gesellschaftlich-kulturelles Konstrukt nicht mehr. In der offenen Begegnung, also „ich und du“, ohne zum Beispiel „ich als Mensch und du als Tier“, sondern „Ich-Körper und Du-Körper“, denke ich nicht an die Andersartigkeit, sondern verhalte mich einfach zu meinem Gegenüber. Wenn wir den Anderen auf eine Vergleichsebene stellen, bricht dies zusammen. Betrachten wir den Schimpansen als fast-so-klug wie den Menschen, können wir seine Schimpansen-Klugheit gar nie wahrnehmen. Diese Klugheit beinhaltet vielleicht ganz andere Lösungsansätze und bewegt sich in anderen Wertsystemen, die uns als Menschen schlicht nicht zugänglich sind.

Inherent Crossing (Sitzung vom 19.3.2015, im Bild: Mojo), Walter Zoo Gossau, 2015. Foto (Videostill): Benjamin Egger

Inherent Crossing (Sitzung vom 19.3.2015, im Bild: Mojo), Walter Zoo Gossau, 2015. Foto (Videostill): Benjamin Egger

Das ist ein defizitärer Zustand. Nur im Bewusstsein um dieses Defizit, nämlich, dass wir den Schimpansen nicht verstehen können, bleiben wir offen für ihn. Diese zugelassene Offenheit entsachlicht unser Urteil und unsere Reflexion. Ich spreche hier von einem Vorgang, der es zulässt, dass das Gegenüber zu einem Teil von einem selber wird. Es geht in dem Sinn nicht um einen rational gesteuerten Vorgang, sondern vielmehr um ein emotionales Wagnis, das man eingeht, indem man den anderen als Bestandteil des eigenen Ichs zu fühlen beginnt. Gerade im Naturwissenschaftskontext spricht man vom Affen als Beinahe-Mensch und stellt ihn dadurch in eine minderwertige Beziehung zum Menschen. Dabei geht der Affe als eigenständiges Gegenüber völlig abhanden. Einerseits beruhigt es mich, dass dies den Affen eigentlich einen Dreck schert, andererseits ist es aber so, dass sein Lebensraum, sei das die Naturschutzzone oder der Zoo, durch diese Fremddefinition bestimmt und auch eingeschränkt respektive gefährdet wird. Es gibt also eine existentielle Verantwortlichkeit, die diejenigen mit der Definitionsmacht gegenüber den Definierten haben.

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Schlingensief, Christoph  (2012): Ich weiss, ich war’s, Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration, Berlin: Suhrkamp.

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Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, North Carolina: Duke University Press.

Marcel Bleuler, Benjamin Egger ( 2016): Jenseits der Differenz. Ein Gespräch über Kollaboration. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/jenseits-der-differenz/