Jenseits der Differenz

Ein Gespräch über Kollaboration

Benjamin: Ich sehe genau die Qualität dieser Form von Arbeit darin, dass du dich in erster Linie als Individuum darauf einlässt und dich von diesem „anderen“ Zugang vereinnahmen lässt. Ich denke, dass es Kunst außerhalb eines persönlichen Interesses und Bedürfnisses nicht gibt. Mein Verständnis von Kunst setzt bei der eigenen Subjektivität an. Ich verstehe die Produktion von Kunst als eine Manifestierung der eigenen Subjektivität in Reflexion mit der mich umgebenden Welt. Im Zusammentreffen mit Tieren habe ich schon als Kind eine Unverfälschtheit gefunden, die mich beruhigt. Mit Menschen zu arbeiten, die außerhalb des Repräsentationsdrucks des professionalisierten Kunstbetriebs stehen und einfach gerne ihre Leidenschaft mit einem Publikum teilen, fühlt sich ähnlich unverfälscht an. Ich spreche hier von der Produktivität einer Naivität, die ich in diesem Umgang empfinde, wobei mich die negative Konnotation, die dem Begriff anhaftet, stört. Für mich haben „Naivität“ und auch „Unverfälschtheit“ mit einer bestimmten Art von Wissen zu tun. Die Voraussetzungen, die es braucht, um deinem Gegenüber oder auch dem Kunstmachen naiv und unverfälscht zu begegnen, sind erheblich. Sie können aber nicht als verbal angeeignete oder linear aufgebaute Errungenschaft des Verstandes betrachtet werden, sondern haben viel mehr mit einem Handlungswissen zu tun, das Intuition und Empfänglichkeit einbezieht. Dieses Handlungswissen wird im Umgang mit Tieren oder Amateuren/innen geschärft. Offenheit und Naivität bedingen sich dabei gegenseitig. Das eigentliche Lernen vom Tier geschieht durch das gegenseitige Sich-Aufeinander-Einlassen, dadurch entwickelt sich die Beziehung. Um sich aufeinander einlassen zu können, braucht es eine Art Durchdringung. Ich muss die Welt des Tieres in mir spüren, seine Unsicherheiten in mir zulassen, seine Freude in mir aufkommen lassen. Dies passiert nicht, weil ich es bewusst will, sondern eher weil ich lerne, es mit mir geschehen zu lassen. Wenn ich diese körperlichen Impulse als Information annehme, kann ich wiederum darauf reagieren. Zum Beispiel der Unsicherheit des Tieres mit Gelassenheit begegnen. Dies spielt sich alles auf einer viszeralen Ebene ab. Es ist eine komplett andere Art der Kommunikation als die Sprachliche. Diese Aufmerksamkeit verändert meine Handlungen und dadurch das Gefüge, von dem ich ein Teil bin.

Teilnehmende eines Kunstworkshops an der Administrativgrenze zu Süd-Ossetien, Zemo Nikozi (GEO), 2015. Foto: Marcel Bleuler

Teilnehmende eines Kunstworkshops an der Administrativgrenze zu Süd-Ossetien, Zemo Nikozi (GEO), 2015. Foto: Marcel Bleuler

Marcel: Ich frage mich, ob das, was man lernen kann, genau in diesem Sich-Einlassen liegt. Dass wir also gar nicht so sehr voneinander lernen im Sinne eines Wissenstransfers, sondern dass das Lernen in dem liegt, was zwischen uns passiert.

Benjamin: Ja, aber das ist doch Lernen. Lernen ist immer ein Prozess des Sich-Einlassens. Das hat viel mit einer körperlich empfundenen Offenheit zu tun. Man muss sich durchdringen lassen und dies geschieht nur, wenn du ein persönliches Wagnis eingehst. Für mich ist dieser Prozess sehr grundsätzlich. Diese körperliche Intelligenz – in der die Tiere uns überlegen sind – ist für mich zum Beispiel auch in der künstlerischen Praxis entscheidend. Um mir diese Art von Wissen anzueignen, muss ich es zuerst persönlich erfahren.

Marcel: Aber reicht dir das denn? Liegt dann die Kunst für dich im Lernen dieser körperlichen Intelligenz, in der gegenseitigen Durchdringung? Oder muss dabei etwas herauskommen?

Benjamin: Es kommt ein anderes In-der-Welt-Sein dabei heraus. Ich denke, gerade in der heutigen Zeit ist es bitter nötig sich zu überlegen, wie wir dem Anderen begegnen und was wir als Menschen sein wollen. Und zwar als Überlegung in und aus der Praxis mit dem Anderen. Die Kunst liegt nicht im Lernen dieser körperlichen Intelligenz. Sie ist eine Anwendung davon.

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Schlingensief, Christoph  (2012): Ich weiss, ich war’s, Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration, Berlin: Suhrkamp.

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Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, North Carolina: Duke University Press.

Marcel Bleuler, Benjamin Egger ( 2016): Jenseits der Differenz. Ein Gespräch über Kollaboration. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/jenseits-der-differenz/