Kultur für alle: Wozu?

Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel

Die Forderung, dass alle einen Anspruch auf Bildung haben sollten – also Mädchen und Jungen, Arm und Reich, in der Stadt und auf dem Land, Leibeigene, Sklaven und Freie – war in der Mitte des 17. Jahrhunderts, also auf dem Höhepunkt des Absolutismus, eine revolutionäre demokratische Forderung. Die Revolutionen, in denen diese Forderung realisiert werden sollte, fanden bekanntlich Jahrzehnte später zuerst in England und fast 150 Jahre später dann in Frankreich statt.

Dieser Slogan ordnet sich damit ein in die bürgerliche Emanzipationsbewegung, in den Kampf um Menschenrechte. Es ging bei diesem Kampf um die körperliche Integrität, um eine Abwehr von Unterdrückung, Folter und Willkür. Der Schutz des Einzelnen, das Verständnis des Menschen als Person, die Trägerin von Rechten ist, macht heute den ersten Teil der Menschenrechte aus (vgl. Bundeszentrale 2004).star (*4) Es geht um die sogenannten Abwehrrechte.

Es gibt allerdings noch einen zweiten Teil der Menschenrechte, in dem Anspruchsrechte formuliert werden. Im Rahmen dieser Rechte geht es etwa um ein Recht auf Wohnen, auf Arbeit, auf Heimat und nicht zuletzt auch auf Bildung und Kultur. Das Problem bei diesen Anspruchsrechten besteht darin, dass man das, was man den einen gibt, den anderen nehmen muss, etwa dadurch, dass der Staat über Steuern eine solche Umverteilung vornimmt: Anspruchsrechte sind Umverteilungsrechte, sodass man sich leicht ausrechnen kann, dass sie gerade vor dem Hintergrund einer liberalen Auffassung von Politik – etwa im Anschluss an John Locke – nicht widerspruchslos akzeptiert wurden. In der Tat bedurfte es wiederum vieler Auseinandersetzungen, um jedes einzelne dieser Rechte durchzusetzen. Eine erste vollständige Formulierung findet sich in den Virginia Declaration of Rights (1776) und einige Jahre später dann in der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte im Kontext der Französischen Revolution. Auf dieser Linie liegt dann der zweite oben genannte kulturpolitische Slogan von Hermann Glaser (1983):star (*14) die Forderung nach einem Bürgerrecht auf Kultur.

Man erinnere sich, dass kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1948 die Vereinten Nationen in San Francisco die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten. Das Problem bei dieser Erklärung besteht allerdings darin, dass sie keine völkerrechtliche Gültigkeit beanspruchen kann. Daher setzte sich die Ehefrau des amerikanischen Präsidenten, Eleonore Roosevelt, stark dafür ein, aus dieser (unverbindlichen) Allgemeinen Erklärung eine verbindliche Konvention zu machen. Wie schwierig dieser Prozess war, kann man daran erkennen, dass es fast 20 Jahre dauerte, bis es im Jahre 1966 endlich zur Abstimmung in der Vollversammlung kam. Weitere zehn Jahre dauerte es, bis genügend Länder diese Konvention ratifiziert hatten, sodass sie im Jahr 1976 in Kraft gesetzt werden konnte. Eleonore Roosevelt hatte auch keinen Erfolg damit, aus der Allgemeinen Erklärung eine einzige Konvention zu machen. Vielmehr teilte man diese Allgemeine Erklärung in zwei Konventionen auf, wobei die erste Konvention (ICCPR: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) die Abwehrrechte, die zweite Konvention (ICESCR: Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) die Anspruchsrechte formulierte. Man kann an der schrittweise erfolgten Zustimmung durch die Länder erkennen, dass es eine deutliche Aufteilung in Ost und West gab: Während man in den westlichen Ländern die Abwehrrechte favorisierte und Probleme mit den Umverteilungsrechten hatte, war die Sympathie im Osten für die Anspruchsrechte groß, für die Abwehrrechte dagegen deutlich kleiner.

Liest man diese beiden Kataloge der Menschenrechte, so kann man erkennen, dass es einen zentralen Begriff gibt: den Begriff der Teilhabe. Man kann dabei soziale, kulturelle, politische und ökonomische Teilhabe unterscheiden, für die in beiden Konventionen Rechtsansprüche formuliert werden. Dabei ist es auch in aktuellen politischen Debatten sehr wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es sich in den Ländern, die diese Menschenrechtskonventionen ratifiziert haben, um geltendes Recht handelt, dass also die genannten Teilhaberechte gültige Rechtsansprüche formulieren (und meist auch in die jeweiligen Länderverfassungen übernommen wurden).

Über die rechtliche Dimension hinaus sind diese Menschenrechte aber auch in einer anderen Hinsicht hoch relevant. Denn bei dem Recht auf Arbeit, auf Wohlstand, auf Kultur und Bildung, auf Wohnen und auf Partizipation am Fortschritt handelt es sich um zentrale Versprechungen der bürgerlichen Moderne. Es geht um ein handlungsfähiges Subjekt, es geht um eine Rechtsperson, die Trägerin universeller Rechte ist und nicht zuletzt geht es um ein gutes Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft.

All diese Versprechen der Moderne sind insofern hoch relevant, weil sie zugleich eine Legitimation unserer politischen Ordnung darstellen. Man muss bedenken, dass eine politische Ordnung kein Selbstzweck ist, sondern dass insbesondere eine parlamentarische Demokratie die Aufgabe hat, ein gutes Leben für alle sicherzustellen. Das bedeutet aber auch, dass sie sich daran messen lassen muss, inwieweit sie diese Ziele realisiert (Dux 2013).star (*7) Jede/r Einzelne von uns kann daher an seinem/ihrem eigenen Leben „evaluieren“, inwieweit dies unserer politischen Ordnung gelingt.

Es wird dabei schnell deutlich, dass es erhebliche Probleme gibt. So gibt es in allen entwickelten Ländern eine wachsende Zahl armer Menschen. Von Teilhabe für alle in ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Hinsicht kann nicht gesprochen werden. PISA hat zudem offenbart, dass der alte Slogan von Comenius, nämlich Bildung für alle sicherzustellen, auch in den reichen Ländern nur begrenzt umgesetzt wird (vgl. als Auftakt einer langen Reihe von Studien OECD 2001). Nutzerstudien unterschiedlichster Kultureinrichtungen zeigen, dass von einer Kultur für alle überhaupt nicht die Rede sein kann (siehe als originellen Ansatz zu diesem Problem Renz 2015).star (*25) Freiheitsrechte werden in den letzten Jahren unter Hinweis auf eine Terrorismusgefahr in einer Weise eingegrenzt, wie man sich das im letzten Jahrhundert kaum vorstellen hätte können.

 

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Max Fuchs ( 2018): Kultur für alle: Wozu?. Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/kultur-fuer-alle-wozu/