Kultur für alle: Wozu?

Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel

Zum Entstehungskontext der Leitformel „Kultur für alle“

Zu einem angemessenen Verständnis einer solchen Leitformel trägt bei, dass man sich über den Entstehungskontext informiert. Hier sind sowohl Gründe für die Formulierung als auch Gründe für ihre Wirksamkeit zu finden. Entstanden ist die Zielformulierung einer Kultur für alle in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren. Jürgen Habermas sprach 1973 von „Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus“.star (*17) In Deutschland hat dies damit zu tun, dass die Zeit des Wirtschaftswunders endgültig vorbei war. Es gab eine erste handfeste Öl- und Energiekrise, woraufhin etwa die autofreien Sonntage eingeführt wurden. Der Club of Rome veröffentlichte seine legendäre Studie über die „Grenzen des Wachstums“ (Meadows 1972).star (*28) Zudem wuchs die Kritik an der zu schnellen Aufbauarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg. So schrieb der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich über die „Unwirtlichkeit der Städte“ (1965).star (*21) Unbehagen empfand man auch gegenüber einem autoritären Verständnis von Politik. Studierende und Lehrlinge gingen auf die Straße. Die sozialdemokratische Partei griff all dies unter dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“ auf. Wurde Willy Brandt in seinen ersten Wahlkämpfen noch ausgelacht, als er von dem Wunsch eines „blauen Himmels über der Ruhr“ (dem industriellen Zentrum Deutschlands) sprach, so wurde kurze Zeit später der Begriff der Lebensqualität populär.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war in Deutschland ein konservatives und enges Verständnis von Kultur als Kunst (vgl. Fuchs 2008)star (*10) vorherrschend, die nur gewisse kulturelle Höchstleistungen der Vergangenheit (etwa die Weimarer Klassik oder die Musik des 19. Jahrhunderts) im Blick hatte. Das dazugehörige Kulturpolitikverständnis bezeichnete man konsequent als Kulturpflege, was bedeutet, dass letztlich alles Wichtige im kulturellen Bereich bereits geleistet wurde, sodass sich nur noch die Aufgabe stellte, dieses zu pflegen und an die nachwachsenden Generationen weiterzugeben. Eine aktive Förderung von Künstlern/innen, die sich gezielt mit der Gegenwart auseinandersetzten, spielte nur am Rande eine Rolle.

Dann setzte sich im Laufe der 1960er Jahre jedoch ein erweitertes Verständnis von Kultur – verbunden mit einem Generationswechsel – durch: Man entdeckte populäre Kultur, man entdeckte die Alltagskultur und hier entdeckte man insbesondere jene der arbeitenden Bevölkerung im Kontext der von ihr erlebten Geschichte (oral history: „Der rote Großvater erzählt“ vom Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (1974))star (*27) und wollte dies durch eine entsprechende Kulturpolitik fördern. Man rezipierte die Debatten des Europarates, bei dem die oben bereits erwähnten Begriffen wie „kulturelle Demokratie“ und „Demokratisierung der Kultur“ im Mittelpunkt standen. Dies war die Geburtsstunde der sogenannten „Neuen Kulturpolitik“, die mit den Namen Hermann Glaser, Hilmar Hoffmann, Olaf Schwencke und anderen verbunden war. Die Akteure dieser neuen Kulturpolitik organisierten sich in der Kulturpolitischen Gesellschaft und trafen sich regelmäßig in der Evangelischen Akademie in Loccum. Insbesondere auf kommunaler Ebene hatte und hat diese Ausrichtung einen Einfluss in der deutschen Kulturpolitik (siehe zur Darstellung dieser Entwicklungen Fuchs 1998,star (*9) für die Generationsabhängigkeit des Kultur- und Kulturpolitikverständnisses siehe Göschel 1991).star (*16)

 

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Max Fuchs ( 2018): Kultur für alle: Wozu?. Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/kultur-fuer-alle-wozu/