Kultur für alle: Wozu?

Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel

Einige Hinweise zur Umsetzung der Neuen Kulturpolitik

Inhaltlich sind zwei Tendenzen festzustellen: Zum einen ging es um eine Modernisierung der traditionellen Kultureinrichtungen (Opernhäuser, Theater, Museen): Diese sollten für ein anderes als das traditionelle, bürgerliche Publikum geöffnet werden. Unterstützt wurde dies durch die Einrichtung entsprechender pädagogischer Abteilungen. Zum anderen ging es um die Anerkennung von Alltagskulturen: um Arbeiterschriftsteller, um Arbeitergesangsvereine, um Feste und Rituale in den Arbeitervierteln. Es ging um die Entdeckung einer oral history, insbesondere bei der Bewältigung der Zeit des Nationalsozialismus (Zeitzeug/innen). In diesem Zusammenhang kam es auch zur Gründung neuer Typen von Kultureinrichtungen: soziokulturelle Zentren, Jugendkunstschulen, Kulturwerkstätten etc.

Der gesellschaftspolitische Leitbegriff war der der Emanzipation, wobei diese eng mit dem bereits oben erwähnten Gedanken der Teilhabe verbunden ist. Man entdeckte, in welchem Umfang bislang für große Teile der Bevölkerung eine solche Teilhabe nicht vorgesehen war. Dies bedeutete, dass man durch ein verändertes Verständnis der traditionellen Kultureinrichtungen und durch die Gründung entsprechender neuer Kultureinrichtungen die bislang vernachlässigten Zielgruppen erreichen wollte. Insbesondere den früheren industriellen Zentren wie etwa dem Ruhrgebiet, die sehr stark unter dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft litten, kamen diese Neugründungen dadurch entgegen, dass die nunmehr stillgelegten Industriebrachen (Bergwerke, Stahlwerke etc.) mithilfe einer staatlichen Förderung engagierten Bürgerinitiativen übereignet wurden, die dort entsprechende soziokulturelle Kulturorte einrichteten und betrieben. In diesen Orten wurden dann auch Ausstellungs- und Auftrittsmöglichkeiten für solche Künstler/innen und Künstler/innengruppen geschaffen, die in den traditionellen Kultureinrichtungen keine Chance hatten.

Obwohl diese kulturpolitische Ausrichtung insbesondere auf kommunaler Ebene durchaus an Einfluss gewinnen konnte, blieben viele Städte und Kultureinrichtungen bei ihrer traditionellen kulturpolitischen Verständnisweise. Später musste man zudem sehen, dass auch den soziokulturellen Einrichtungen, mit denen man hoffte, entsprechend dem Hoffmann‘schen Slogan alle Bevölkerungsgruppen erreichen zu können, genau dies nicht gelang: Solche Einrichtungen hatten zwar eine andere, aber eben auch abgrenzbare Nutzer/innengruppe.

In der Soziologie erklärte die in den späten 1980er Jahren sich durchsetzende Lebensstilsoziologie, in deren Gesellschaftsanalysen die ästhetischen Präferenzen der Menschen eine wichtige Grundlage für die Bildung von Lebensstilgruppen und Milieus waren (so schon Bourdieu 1987;star (*3) zuerst 1979), dass dies auch nicht anders sein kann: Jedes ästhetische Angebot findet seine genau abgrenzbare Gruppe von Menschen, die entsprechende Präferenzen haben.

Aber auch der Urheber des Slogans „Kultur für alle“ betrieb als Kulturdezernent der Stadt Frankfurt zusammen mit dem CDU-Bürgermeister eine Kulturpolitik, die wenig soziokulturell orientiert war (Museumsufer). Sie war vielmehr ein Teil des Stadtmarketings, ein Element im Wettstreit der Städte, Kultur nicht bloß als identitätsbildende Kraft und als Arbeitsmarkt, sondern auch als Faktor im Wettbewerb, um attraktive Ansiedlungen aus dem Bereich der Wirtschaft einzuwerben. Dies war dann auch das zentrale kulturpolitische Thema der 1990er Jahre: Bildung und Kultur nicht bloß als Element der Stadtentwicklung zu nutzen, so wie es der Städtetag in seinen legendären Versammlungen und Positionspapieren am Anfang der 1970er Jahren formulierte („Wege zur menschlichen Stadt“), sondern Kultur als Standortfaktor, Kultur als Wettbewerbsvorteil, Kultur als volkswirtschaftlich interessante Größe zu verstehen.

Flankiert wurde dieser erneute Paradigmenwechsel durch die wachsende Bedeutung einer ökonomischen Betrachtungsweise von Kultur seit den späten 1980er Jahren: Es ging um Kulturwirtschaft (creative industries), das Kulturmanagement wurde erfunden, entsprechende Ausbildungsgänge wurden mit staatlicher Unterstützung eingerichtet, Studien zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der Kultur wurden vorgelegt und nicht zuletzt wurde als neues Paradigma der öffentlichen Verwaltung das Neue Steuerungsmodell nach einem niederländischen Muster („Tilburger Modell“) eingeführt, das die Stadt nicht mehr als politischen Raum, sondern in einer ökonomischen Perspektive nur noch als Unternehmen und Dienstleister betrachtete: Aus politisch engagierten Bürger/innen sollten Kund/innen des Unternehmens Stadt werden.

 

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Max Fuchs ( 2018): Kultur für alle: Wozu?. Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/kultur-fuer-alle-wozu/