Zum Wandel des Kulturbegriffs und des Verständnisses von Kulturpolitik
Die Diskussion einer Leitformel wie „Kultur für alle“ ist also nicht bloß interessant im Hinblick darauf, ob sie auch heute noch als politische Zielstellung funktionieren kann, sie ist auch deshalb interessant, weil man an ihrer Entwicklung Erkenntnisse über die Entwicklung des Kulturbegriffs und seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit gewinnen kann.
Eine Erbschaft des Kulturverständnisses der Weimarer Klassik war ein bürgerlicher Humanismus, ein normativer Kulturbegriff einer fortschreitenden Entwicklung zum Guten, der eine enge Verbindung mit einem entsprechenden Verständnis einer humanistischen Bildung hatte: „Kultur“ bedeutete Kultivierung des Menschen, bedeutete eine Entwicklung zum Guten. Man hätte dabei durchaus sehen können, dass gerade die deutsche Geschichte ein anderes Verständnis von Kultur hat sichtbar werden lassen. Der bedeutende Kulturphilosoph Ernst Cassirer war der einzige jüdische Rektor in der Weimarer Republik und musste vor den Nationalsozialisten die Flucht ergreifen. Er hatte zunächst auch ein solch humanistisches normatives Kulturverständnis vertreten und musste dann am eigenen Leib verspüren, dass – wenn Kultur in philosophischer Perspektive das von Menschen Gemachte erfassen will – man eben auch die zerstörerischen Dimensionen einer so verstandenen Kultur berücksichtigen muss. In seiner Analyse des Nationalsozialismus (Cassirer 1949) (*5) interpretierte er diesen als unheilige Allianz zweier symbolischer Formen: einer elaborierten Technik und eines archaischen Mythos des Blutes und der Rasse.
Erich Fromm (1974) (*8) schrieb sein berühmtes Buch über die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ und der Soziologe Hans Peter Thurn an der Kunstakademie in Düsseldorf sprach später von „Kulturbegründern und Weltzerstörern“ (1990).
(*26) Ein solcher, sehr viel realistischerer Blick auf Kultur wurde auch unterstützt durch ein Verständnis, auf das sich die UNESCO 1982 bei der Weltkonferenz zur Kulturpolitik in Mexiko geeinigt hat, dass Kultur nämlich zum einen zwar auch die künstlerischen Aktivitäten und Werke erfasst, dass sie aber auch mit den Erscheinungen des Alltags zu tun hat und insbesondere auch die Werte und Normen der Menschen und ihrer Gesellschaften erfasst.
Nicht zuletzt waren es die Studien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1987), (*3) die zeigten, dass eine ästhetische Praxis nicht nur nicht von sich aus zu einer positiven Entwicklung des Menschen und seiner Gesellschaften führt, sondern dass sie im Gegenteil in politischer Hinsicht alles andere als harmlos ist: Es sind nämlich die ästhetischen Präferenzen, die darüber entscheiden, welchen Platz man in der Gesellschaft bekommt. Es ist die ästhetische Praxis, die dafür sorgt, dass die Gesellschaft so bleibt, wie sie ist.
Immerhin zog der Bildungspolitiker Bourdieu eine Konsequenz aus den Forschungsergebnissen des Soziologen Bourdieu: Als das Collège de France vom Präsidenten den Auftrag bekam, ein nationales Curriculum für die Schule zu entwickeln, sollte eine Art ästhetischer Alphabetisierung darin eine wichtige Rolle spielen. Es ging dabei weniger um eine Missionierung zur Nutzung von Kultureinrichtungen, sondern auf der Basis einer gewissen Souveränität im Umgang mit ästhetischen Codes sollte die bislang eher verdeckt stattfindende politische und gesellschaftliche Funktionalisierungen des Ästhetischen unterlaufen werden (siehe Müller-Rolli 1999). (*22)
Max Fuchs ( 2018): Kultur für alle: Wozu?. Zur Karriere einer kulturpolitischen Leitformel . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/kultur-fuer-alle-wozu/