Kunst- und Kulturvermittlung im Brennpunkt
Ambivalenzen einer (vermeintlich) unprätentiösen Zielsetzung
Ambivalenz 2: „Offene“ vs. „geschlossene“ Unterrichtsverfahren (Methodische Ebene)
Aus den daraus resultierenden Widersprüchen und damit verbundenen Schwierigkeiten darf jedoch auf keinen Fall abgeleitet werden, dass Ambitionen, Jugendliche aktiv an Projekten der Vermittlung (zeitgenössischer) Kunst- und Kultur zu beteiligen, auf die Zielgruppe der Nachkommen höherer Schichten zu beschränken seien. Denn das würde zur Verfestigung pädagogischer (und daran untrennbar gekoppelter gesellschaftlicher) Zu- bzw. Missstände führen, die der als wichtigster Bildungstheoretiker der USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geltende John Dewey bereits in seinem 1916 zuerst erschienenen Hauptwerk Democracy and Education anprangerte: Das Bildungssystem verhilft Kindern und Jugendlichen aus bessergestellten Milieus im Rahmen „ganzheitlicher“ Zugänge zur Entfaltung ihrer Persönlichkeiten, reduziert jedoch gleichzeitig die Bemühungen hinsichtlich unterprivilegierter Heranwachsender darauf, am Arbeitsmarkt sofort verwertbare Grundfertigkeiten zu vermitteln (vgl. Dewey 2008: 107f.). (*11) Eine solche Separierung von Lehr- und Lernzielen bezogen auf Klassen zementiert Deweys Ansicht nach den Status quo hinsichtlich der Verteilung von Macht und Ressourcen, weswegen er sie im mit „Culture as Aim“ betitelten Abschnitt dieses Buches als „fatal for democracy“ (ebd.: 110) (*11) bezeichnete. Darauf aufbauend postulierte er, dass Bildung nur dann demokratischen Prinzipien gerecht zu werden vermag, wenn sie es zu Wege bringt, über die basalen Kompetenzen hinausgehende Fähigkeiten aller Menschen gleichwertig zu fördern (vgl. Ebd.: 109f.). (*11) Mit dem analogen Argument, dass die „[k]ulturelle Partizipation (…) eine wichtige Voraussetzung für die aktive Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen“ darstellt und mit der Absicht „Benachteiligungen entgegen zu wirken“ wird heutzutage das Lancieren staatlicher Förderprogramme der „Kulturvermittlung in neuen sozialen Kontexten“ begründet (Gießner-Bogner/Kolm o.J.). (*16)
Das scheint zunächst auch insofern im höchsten Maße berechtigt zu sein, als die empirische Bildungsforschung der letzten 100 Jahre eindeutig belegt, dass über die Grundfertigkeiten hinausgehende Fähigkeiten am besten mit Hilfe so genannter „offener“ Lehr- und Lernformen (u.a. erfahrungs- und handlungsorientiertes sowie forschendes „learning by doing“) gefördert werden können (Pasuchin 2015). (*27) Diese sind im Zuge des Einsatzes der Projektmethode am ehesten realisierbar (vgl. Frey 2005), (*14) als deren „Vater“ John Dewey gilt (Gudjons 2003: 101) (*17) und welche das zentrale didaktische Verfahren der Kunst- und Kulturvermittlung bildet. Damit geht jedoch ein weiteres Problem in Hinblick auf das hier vorgestellte Vorhaben einher. Denn gleichzeitig zeigen aktuellere empirische Studien auf, dass gerade die Nutzung derartiger Unterrichtsmethoden soziale Divergenzen nicht abzubauen vermag, sondern sie im Gegenteil zu verstärken tendiert (Ditton 2013: 264; (*12) vgl. Altrichter et al. 2009: 349 (*1)). Die Begründung lautet, dass solche Herangehensweisen an „unausgesprochenen Regeln und Bedingungen“ anknüpfen, welche aus privilegierten Familien stammenden Kindern und Jugendlichen viel besser vertraut sind als den Nachkommen benachteiligter Eltern (Ditton 2013: 264). (*12) Anders formuliert: „Offene Lernformen bevorzugen einseitig Mittelschichtkinder!“ (Sertl 2007) (*32) Sollte sich diese These auch im Verlauf des behandelten Forschungsprojektes bestätigen, wäre es auf der methodischen Ebene dem Dilemma ausgesetzt, dass dabei zur Behebung von Diskriminierungen didaktische Verfahren zum Einsatz kommen müssten, die ihrerseits diskriminierend wirken.
Iwan Pasuchin ( 2015): Kunst- und Kulturvermittlung im Brennpunkt. Ambivalenzen einer (vermeintlich) unprätentiösen Zielsetzung. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 06 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-und-kulturvermittlung-im-brennpunkt/