Kunst- und Kulturvermittlung im Brennpunkt
Ambivalenzen einer (vermeintlich) unprätentiösen Zielsetzung
Weitere (prinzipielle) Ambivalenzen und Ausblick
Abgesehen von den behandelten spezifischen Diskrepanzen in Bezug auf die Zielsetzung weist das beschriebene Gesamtvorhaben auf der allgemeinen Ebene zwei weitere kaum aufhebbare Ambivalenzen auf:
Die erste basiert darauf, dass dem dahinter stehenden Problem der (Bildungs-)Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen auf Basis ihres sozio-ökonomischen Hintergrunds sowie damit einhergehend ihrem geringen kulturellen Kapital nachhaltig nur auf der Makro- (d.h. der gesellschaftlichen) sowie der Mesoebene (d.h. der institutionellen) entgegengewirkt werden kann. Dabei bedingen sich beide Aspekte insofern gegenseitig, als das Bildungssystem immer auch einen Spiegel der jeweiligen Gesellschaft darstellt (Ditton 2013: 271) (*12) und somit genauso ein „Produzent“ wie ein „Produkt“ sozialer Ungleichheit ist (Berger/Kahlert 2005b: 7). (*6) Auf der Mikroebene der pädagogischen Zusammenarbeit einzelner Lehrender bzw. Kunst- und KulturvermittlerInnen auf der einen sowie Lernender bzw. Projektteilnehmender auf der anderen Seite sind solche Dilemmata jedoch keineswegs lösbar. Im besten (im Rahmen dieses Vorhabens angestrebten) Fall kann ein „Tropfen auf den heißen Stein“ individuell positive Erfahrungen ermöglichen und davon ausgehend zu persönlich gewinnbringenden Veränderungen führen. Beim schlimmsten (unbedingt zu vermeidenden) Szenario besteht die Gefahr, dass durch die Behandlung der beteiligten Jugendlichen als „bildungs- bzw. kulturfern“ ihre sozialen Ausschlüsse und Stigmatisierungen – trotz bzw. gerade wegen des Wunsches, sie zu unterstützen – reproduziert oder sogar verstärkt werden (vgl. Chrusciel 2013: 255; (*10) Mörsch 2013a: 55 (*23)).
Der zweite dem Gesamtvorhaben inhärente Antagonismus besteht darin, dass die aus seiner soeben aufgezeigten tatsächlichen Problemstellung resultierende (implizite) zentrale Forschungsfrage innerhalb eines empirischen (Bildungs-)Forschungsprojektes gar nicht bearbeitbar und erst recht nicht beantwortbar ist. Denn das ihm zugrunde liegende Hauptinteresse richtet sich darauf, ob und falls ja welche Potenziale es gibt, im Zuge von Maßnahmen der Kunst- und Kulturvermittlung an Schulen mit einem hohen Anteil unterprivilegierter Kinder sowie Jugendlicher zur Überwindung der „feinen Unterschiede“ zwischen Nachkommen divergierender Schichten beizutragen. Eine solche Ausrichtung würde aber den Rahmen der Möglichkeiten der empirischen Bildungsforschung bei Weitem überschreiten. Denn Letztere konzentriert sich auf die „nachweisbaren opportunities und [auf die] effects and side effects institutionalisierter (und auch informeller) Bildungs- und Erziehungsprozesse“ (Scheider 2006: 27, H. i. O.). (*31) Das schränkt den „Radius“ extrem ein, in dem das Stellen von Forschungsfragen sinnvoll stattfinden kann – z.B. auf solche (im Vergleich zur gerade genannten eher „bescheidene“), die in dem hier beschriebenen Vorhaben aufgeworfen werden und auf die mit konkreten Antworten zu rechnen ist.
Der Grund, warum das Gesamtprojekt all den zahlreichen genannten Unwägbarkeiten zum Trotz durchgeführt wird, besteht darin, dass es innerhalb der Erziehungswissenschaft – die seine zentrale Bezugsdisziplin darstellt – zwar sehr viele und höchst elaborierte Untersuchungen zur Existenz sowie zu den Ursachen und Folgen von Bildungsdiskriminierungen gibt (siehe z.B. Maaz/Neumann/Baumert 2014; (*22) Becker/Lauterbach 2013a; (*3) Berger/Kahlert 2005a (*5)), jedoch kaum über politische Appelle hinausgehende praktische Ansätze zu ihrer Behebung existieren. In erster Linie die – vom Autor des vorliegenden Beitrags voll unterstützte – Forderung innerhalb des pädagogischen Ungleichheitsdiskurses nach einer bezogen auf den ökonomischen Status der Herkunftsfamilien möglichst heterogenen Zusammensetzung der SchülerInnenschaft (vgl. z.B. Becker/Lauterbach 2013b: 34; (*4) Solga/Wagner 2013: 198 (*33)) entbehrt damit eines empirisch „belastbaren“ Fundaments. Denn wie kann eine tatsächlich egalitäre (Gesamt-)Schule funktionieren und v.a. von einer sozial heterogenen Elternschaft akzeptiert werden, wenn in ihr weiterhin jene Effekte wirken sowie Prozesse vonstattengehen, die oben in Hinblick auf die Ambivalenzen des Vorhabens beschrieben wurden?
Wie bereits angemerkt, sprengen derartige Interessensbekundungen den Rahmen der Bearbeitungsmöglichkeiten der empirischen Bildungsforschung. Jedoch weist die im behandelten Projekt angestrebte Verknüpfung der gesellschafts- und selbstkritischen Perspektiven der (stärker auf schulische Lehr- und Lernvorgänge ausgerichteten) allgemeinen Pädagogik mit analogen Blickwinkeln der (eher außerschulisch positionierten) Kunst- und Kulturvermittlung einige Erkenntnispotenziale auf. Denn erstens können davon ausgehend sich gegenseitig ergänzende theoretische Prämissen und praktische Herangehensweisen beider Disziplinen untersucht werden, die Ansätze zur Lösung der genannten Probleme zu beinhalten versprechen. Zweitens kommt dabei eine Methodik zum Einsatz, die sich einerseits von den üblichen Verfahren der Bildungsforschung distanziert sowie andererseits als eine Bemühung um die Synthese der (tendenziell in gegenseitiger Opposition stehenden) Forschungszugänge der zwei Richtungen interpretierbar ist und folglich ihre Stärken zu bündeln vermag.*5 *(5) Das in der Kombination mit der für vergleichbare Vorhaben eher unüblich langen Projektlaufzeit und ungewöhnlich hohen Anzahl beteiligter VermittlerInnen und SchülerInnen sowie in Verbindung mit einer verhältnismäßig großen Vielfalt der eingesetzten Forschungsinstrumente eröffnet die Chance, – quasi als „Nebenprodukt“ – auch Anregungen für Antworten auf Fragen zu entdecken, die man sich zu Beginn nicht stellte bzw. sich nicht zu stellen traute.
Iwan Pasuchin ( 2015): Kunst- und Kulturvermittlung im Brennpunkt. Ambivalenzen einer (vermeintlich) unprätentiösen Zielsetzung. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 06 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-und-kulturvermittlung-im-brennpunkt/