Raum einnehmen
Der zweite Teil des Workshops fand draußen statt. Auf dem Vorplatz einer Kirche*3 *(3) begannen wir, den öffentlichen Raum zu erkunden und zu erproben. Wir begannen damit, uns mithilfe von Straßenmalkreiden im Raum zu verorten. An einer intuitiv bevorzugten Stelle malten wir den eigenen, benötigten Bereich auf, die sogenannte comfort zone. Mit großer Freude malten die Mädchen Kreise und Vierecke ganz nah bei der Freundin oder für sich allein und mit noch größerer Freude verzierten sie diese. Im Rahmen der anschließenden Diskussion und Reflexion konnten wir feststellen, dass viele der Mädchen ihre „Wohlfühlzone“ in der Nähe einer Freundin platzierten. Daraus ergab sich die Möglichkeit, die Relevanz und Bedeutung von Themen wie Freundschaft, Nähe oder Geschwisterliebe zu thematisieren.
„Wieviel Platz brauche ich?“
Anschließend versuchten wir uns zusammen mit den Mädchen an einer performativen Übung. Sie sollten in einer Reihe rennen und die sich abwechselnden Vorderfrauen imitieren, die verschiedene Laufarten vormachten. Hierbei durfte jede in die Rolle der Vorderfrau schlüpfen. Die Vermittlungssituation im eigentlichen Sinne ergab sich nicht zuletzt in persönlichen Gesprächen mit den Mädchen, die fortwährend entstanden. So fragte uns eines der Mädchen, nachdem wir die Übung erklärt hatten, ob so etwas denn erlaubt sei. „Ist es denn verboten?“, konnten wir kontern und somit innerhalb der gegebenen Situation auf den angestrebten Bruch ungeschriebener Regeln durch unkonventionelles Verhalten verweisen.
Ziel der Übung war es, sich in der spielerischen Freiheit nicht beirren zu lassen, auch wenn man sich in der Öffentlichkeit befindet. Entgegen der Befürchtungen, Mädchen in der frühen Pubertät würden dieses Verhalten womöglich als peinlich empfinden, sprang eine nach der anderen an die Spitze der Reihe: „Das ist ja eigentlich voll peinlich, aber in der Gruppe macht’s Spaß.“ Dieser Satz eines Mädchens lässt uns glauben, dass der Kern dessen, was wir ihnen vermitteln wollten, angekommen ist: Konventionen können durchaus ausgehebelt und Machtverhältnisse hinterfragt werden.
„Performative Raumaneignung“: Einfach aus der Reihe tanzen? Wir haben’s ausprobiert.
Nach dieser performativen Übung setzten wir uns mit der Thematik auseinander, wie man sich und den eigenen Bedürfnissen Gehör verschaffen kann. Wir hatten mit den Mädchen bereits geübt, Präferenzen und Standpunkte zu formulieren und wollten diesen Prozess mit einer weiteren Übung vertiefen. Diese orientierte sich am gegebenen Raum: Vor Ort ziert derzeit die Plastik eines großen gelben Ohres den Eingang der Kirche. Auf Post-Its konnten die Teilnehmerinnen all das schreiben, was sie in der Öffentlichkeit gehört wissen wollen, und diese anschließend auf das Ohr kleben. Das konnten Wünsche sein oder etwas, das sie schon lange einmal sagen wollten. Durch die Tatsache, dass die Zettel dort kleben blieben, die Botschaften somit auch andere erreichen und weitergetragen werden konnten, wurde diese Übung zu einer kleinen Intervention in den öffentlichen Raum, was den Mädchen sehr gefiel.
Nach kurzer Zeit klebten die unterschiedlichsten Proklamationen und Wünsche vor dem Eingang der Kirche. Bunte Kinderideen auf gelbem Grund: „Immer sagen, was man denkt“ stand da, und „Alles raus lassen“.. Doch auch persönliche Wünsche ‑ „Ich möchte Essen, Frieden, Geld und ein Haus.“ ‑ und Bekundungen eines Gemeinschaftsgefühls, der gegenseitigen Zuneigung und der Bedeutung des Füreinander-Einstehens fanden an dieser Stelle erneut Erwähnung.
„Post-it-Intervention“: Nur wer Bedürfnisse äußern kann, kann auf offene Ohren hoffen.
Alix: “Ich kenne mich in Salzburg nicht gut aus und wusste auch den Weg zurück zum Verein nicht so recht zu finden. Bald aber fand sich je eine kleine Hand in den meinen und die jüngsten der Mädchen, stolz um Kenntnis und Verantwortung, zeigten uns den Weg. Vertrauensvoll begannen sie, mir von sich zu erzählen. Wie es war, in die Schule zu kommen, und die dort gesprochene Sprache nicht zu beherrschen. Vom Zuhause und auch von Träumen: Lehrerin wollte die eine der beiden werden, wenn sie einmal groß wäre. Mit dem konkreten Programm hat das zwar erstmal wenig zu tun, doch solche Situationen geben nicht nur unheimlich viel zurück, sie öffnen auch Raum, Ideen zu kommunizieren, die hinter all dem stehen ‑ Selbstwertgefühl und Mut, den eigenen Weg zu gehen, sowie tiefergehend zu kommunizieren.“
Alix Michell, Anne-Marie Zeif ( 2016): Mein Platz im Drumherum. Ein Workshop im Verein Viele. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/mein-platz-im-drumherum/