Neue Auftraggeber: Wenn Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen

Marcel Bleuler im Gespräch mit Alexander Koch über die Potenziale einer Kunstproduktion im Bürger*innen-Auftrag

 

Hast du schon mal erlebt, dass sich die Ideen oder auch die Interessen von Kunstschaffenden durch den Austausch mit Auftraggeber*innen grundlegend verändert haben?

Ja, häufiger: Matali Crasset zum Beispiel, eine französische Systemdesignerin, die eine relativ breite Praxis hat. Sie wurde von zwei Lehrerinnen in einer kleinen Dorfschule in Nordfrankreich für ein Buchprojekt angefragt. Während des Mediationsprozesses stellte sich heraus, dass die Lehrerinnen und die Schule eigentlich ein ganz anderes Problem hatten, dass nämlich das Schulgebäude total veraltet war. Daraufhin sagte die Mediatorin: „Warum gebt ihr nicht eine neue Schule in Auftrag?“ Die Lehrerinnen erwiderten: „Das ist doch total vermessen, wie soll das denn gehen?“ Und Matali Crasset fragte: „Ich habe zwar bislang noch keine Schule gebaut, aber wie müsste sie denn aussehen, wenn ihr euch etwas wünschen dürftet?“ Und genau hier kommt der Faktor Kunst ins Spiel, das möchte ich an dieser Stelle gerne sagen. Kunst steht für mich synonym für Think-out-of-the-Box. Denk jetzt mal nicht an Geld! Denk nicht an Machbarkeit! Sondern beschreib jetzt mal einfach eine Wunschproduktion! Das ist ein ganz anderer Ausgangspunkt der Projektentwicklung, als es in der Regel der Fall ist.

 

Und wie ging es dann weiter mit diesem Auftrag?

Matali Crasset machte tatsächlich einen Entwurf, und das für die Umsetzung nötige Geld konnte aufgetrieben werden: 1,2 Millionen Euro. Die Schule wurde gebaut und ist als erste Null-Energie-Schule Frankreichs aufgrund ihres speziellen und innovativen Mobiliars beispielgebend geworden.*2 *(2)Sie ist gleichzeitig das soziale Zentrum der gesamten Gemeinde, mit Mediathek und Veranstaltungsräumen, auch für die Senior*innen. Es ist also nicht nur ein neuer Baukörper entstanden, sondern auch ein neuer sozialer Raum. Dass der Auftrag darauf hinauslaufen würde, das konnte Crasset vorher nicht ahnen.

 

„Die Sieben Künste von Pritzwalk“

 

Auf eurer Website sticht auch ein Projekt heraus, das nach einem neuen Sozialraum aussieht, es heißt Die sieben Künste von Pritzwalk. Kannst du dazu etwas sagen, warst du da involviert?

Ja. Das war unser erstes richtig tolles Projekt in Deutschland. Der Mediator war Gerrit Gohlke, mit dem ich auch heute noch eng zusammenarbeite. Das Projekt entstand, weil er bei einem Besuch in Pritzwalk auf der Straße mit einer Bürgerin ins Gespräch kam, die erzählte, dass die Innenstadt sich immer weiter leerte. Die Geschäfte würden schließen, die Leute kämen nicht mehr. Sie sagte: „Da muss man was machen.“ Und immer, wenn Bürger*innen das sagen, dann werden wir hellhörig und fragen nach: „Aha, was denn? Was müsste man denn machen?“ Oft gibt es einen ersten Initiativgeist, einen Impuls, etwas zu tun. Die Bürgerin in Pritzwalk machte den Vorschlag, man könne ja ein paar Skulpturen platzieren, dann sei dieser Ort vielleicht wieder attraktiver. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um keine schnelle Idee, sondern um einen lang gehegten Traum ihrerseits handelte, um ihre Hoffnung auf eine gemeinsame, heile Kultur. Mediation heißt aber auch, nachzufragen und Vorschläge in Frage zu stellen. Das war Gerrit Gohlkes Aufgabe. Nach einigen Treffen, bei denen sich auch der Gesprächskreis erweiterte, wurde immer klarer, dass die Leute nicht wegen einiger Skulpturen in ihre Innenstadt zurückkehren würden, und der Mediator wagte es, die Frage umzukehren. Er schlug vor, diejenigen sichtbar zu machen, die nicht kommen, die lieber im Supermarkt auf der grünen Wiese einkaufen, lieber privatisieren würden. Also eigentlich alle. Die Idee war nun, die Vielfalt zu zeigen. Den Reichtum, der da ist, in den leeren Ladengeschäften auszustellen. Sozusagen aufzuzeigen, dass die Stadt Bürger*innen hat, sichtbar zu machen, wer sie sind, wie sie sind. Der Mediator hat das damals einen „Atlas“ genannt. Das war so ein erster Gedanke.

Der kam im Austausch mit den Bürger*innen?

Der kam im Austausch, genau. Das hat auch etwas mit Vertrauen zu tun. Zu sagen, ok, es ist nicht so einfach, das Problem liegt noch tiefer. Trauen wir uns, das anzugehen?

 

Aber mal ganz konkret: Wie erweitert ein*e Mediator*in den Gesprächskreis in so einer Situation, wie du sie gerade geschildert hast?

Erst mal braucht es viele Blickwinkel. Man fragt: „Wen kennen Sie denn noch? Wer sind denn Leute, die das Problem ähnlich sehen oder von ihm betroffen sind?“ Und so entstehen weitere Gespräche, es bilden sich informelle Round Tables, man trifft sich privat oder in einer Kneipe, oder man macht eine Präsentation im Gemeindesaal und spricht mit der Verwaltung darüber, wie sie die Dinge sieht. Und währenddessen erzählt man von den Neuen Auftraggebern und schaut, ob die Leute dieses Modell für sich nutzen wollen. Aber wir würden in dieser Phase nie versuchen, sie zu überreden oder gar Künstler*innen mitbringen. Das passiert ja häufiger in Partizipationsprojekten: Künstler*innen gehen in ein Dorf und versuchen dann, die Bevölkerung zu motivieren, mitzuspielen. Dabei ist oft weder die Partizipation noch die Kunst am Ende des Tages besonders überzeugend. Das wissen viele Praktiker*innen aus diesem Feld. Und daher tun wir es eben anders. Wir unterstützen ein Projekt nur dann, wenn die Leute selbst sagen: „Wir wollen etwas auf die Beine stellen.“ Manchmal bringen wir solche Leute erst zusammen, weil wir sehen, dass sie ein ähnliches Anliegen haben, auch wenn sie sich noch gar nicht kennen. Und so entwickelt sich eine Art Dynamik.

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Achim Könneke (Hg.): Clegg & Guttmann: die Offene Bibliothek; the Open Public Library. Cantz, Ostfildern 1994.

Marcel Bleuler, Alexander Koch ( 2020): Neue Auftraggeber: Wenn Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen. Marcel Bleuler im Gespräch mit Alexander Koch über die Potenziale einer Kunstproduktion im Bürger*innen-Auftrag. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/neue-auftraggeber/