Partizipation in der zeitgenössischen Kunst
Von der postmodernen Condition d’Etre hin zu einer Destabilisierung der Kunstwelt*1 *(1)
Relational Aesthetics und die Entfesselung der Kunstbetrachtung
Die oben zitierte Kritik von Grant Kester bezieht sich auf künstlerische Arbeiten, wie sie Nicolas Bourriaud Mitte der 1990er-Jahren heranzog, um eine „neue Tendenz“ der Gegenwartskunst zu beschreiben. Diese Tendenz diskutierte der international rezipierte Kurator unter dem Begriff Esthétique relationelle (deutsch: relationale Ästhetik), zu dem er 1998 eine gleichnamige Publikation herausgab. Worum es sich dabei handelt, lässt sich anhand einer Arbeit von Pierre Huyghe veranschaulichen. Im Februar 1995 realisierte der französische Künstler in Mailand die Arbeit Casting, die er selbst als „Ausstellung“ (Lavigne 2013: 37) (*17) bezeichnet. Zu der Ausstellung hatte er im Vorfeld zwei verschiedene Einladungen kursieren lassen. Die eine richtete sich an Kunstinteressierte, die zu einer Galerie-Eröffnung geladen wurden, die zweite wurde außerhalb der Kunstwelt verbreitet und adressierte nicht-professionelle Schauspieler_innen. Sie wurden aufgerufen, frei gewählte Textpassagen aus Pier Paolo Pasolinis Film Uccellacci e Uccelini zu rezitieren und sich so für einen Part in einer neuen Arbeit des Künstlers zu bewerben.
Da sich Huyghe damals mit seinen künstlerisch-cineastischen Arbeiten international einen Namen gemacht hatte, ist anzunehmen, dass aus beiden Gruppen – den Kunstleuten wie den Laiendarsteller_innen – viele dem Aufruf gefolgt sind. Der Raum, in dem Casting stattfand, war bis auf einige Sitzgelegenheiten sowie eine fest installierte Kamera für die Aufzeichnung der Vorsprechen leer. Die Ausstellung bestand nicht aus einer materiellen Installation, sondern in der sozialen Konstellation, die durch die zweigleisige Einladung entstand. Kunstpublikum und Schauspieler_innen kamen mit ganz verschiedenen Beweggründen und Erwartungen an, wurden jedoch nicht über die Doppelbödigkeit in Kenntnis gesetzt. Die sich mischenden anwesenden Menschen gerieten automatisch in ein Dispositiv mehrdeutiger Rollenzuschreibungen und Wahrnehmungen. Es entstand, wie Huyghe beschreibt, ein Prozess voller „Zögerlichkeiten und Zufällen“ (Lavigne 2013.: 37). (*17) Besucher_innen und Schauspieler_innen wurden Teil einer Realität, die sie durch ihre Anwesenheit generierten und zugleich nicht durchschauten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Situation zu beobachten und mit anderen ins Gespräch zu kommen, um sich zu orientieren.
Aufgrund von Arbeiten wie Casting zählte Huyghe zu den Künstler_innen, anhand derer Bourriaud seinen Begriff einer relationalen Ästhetik entwickelte. Bourriaud lenkte dabei den Fokus auf die Eigenschaften und die Funktionsweisen der zwischenmenschlichen Beziehungen, die ein Kunstwerk entwirft respektive hervorruft (vgl. Bourriaud 2002: 109). (*6) Angewendet wurde dieser Fokus insbesondere auf Arbeiten, die im Zusammenkommen von Menschen bestanden. Neben Casting gehörte dazu etwa Rirkrit Tiravanijas Untitled (Free/Still) von 1992, für das der thailändisch-argentinische Künstler in New York einen Galerieraum leerräumte, um darin eine Küche und einen Essraum einzurichten. Die Besucher_innen von Untitled (Free/Still) fanden Tiravanija beim Kochen und Servieren von Curryreis vor. Die Galerie wurde zu einem sozialen Verhandlungsraum, in dem die Besucher_innen durch die Art, wie sie die Anlage nutzten – zum Beispiel als Gratis-Imbiss, als sozialen Begegnungsraum oder als ästhetischen Raum –, die Bedeutung von Untitled (Free/Still) produzierten.
Bourriauds Begriff – der bald nur noch in der englischen Übersetzung „Relational Aesthetics“ kursierte – ist aus dem Diskurs und der jüngeren Geschichte partizipativer Kunst nicht wegzudenken. Den hinzugezogenen Künstler_innen ging es jedoch nicht um das Erreichen einer gleichberechtigten Teilhabe an künstlerischen Entscheidungs- und Handlungsprozessen. Im Gegenteil: Etwa in Huyghes Ausstellung Casting wurden die Besucher_innen vom Künstler ja hinters Licht geführt. Damit strich die Arbeit vielmehr die Autorität des Künstlers und seine Vormachtstellung hervor.
Huyghes Vorgehensweise lässt sich mit künstlerischen Interessen der Happening- und Konzeptkunst in Verbindung setzen, eine Referenz, die auch Bourriaud in seinem Buch aufgreift. Insbesondere im US-amerikanischen Kontext erprobten Kunstschaffende in den 1960er und 70er Jahren eine Neukonzeption von Kunstbetrachtung. Etwa in den Arbeiten von Allan Kaprow fanden eine Aktivierung und Einbindung der Betrachter_innen statt, die sie zu Teilnehmenden am Kunstgeschehen werden ließen. Folgerichtig sprach Kaprow damals auch nicht mehr von „beholders“, also Betrachter_innen, sondern verwendete bereits in den späten 50 Jahren den Begriff „participants“ (vgl. Ursprung 2003: 96). (*23) Dabei ging es ihm jedoch ebenso wenig wie Huyghe um den Entwurf einer demokratischen Teilhabe. Im Zentrum des Interesses stand die Formung eines subjektiven ästhetischen Erlebnisses, in das sich Zufälle und zwischenmenschliche Dynamiken mischten. Ein Erlebnis, das der Künstler nicht ganz in der Hand hat, obschon er aufs Ganze gesehen die Fäden zieht.
Dieser Ansatz unterscheidet sich diametral vom Kunsterlebnis, wie es beispielsweise den abstrakten Expressionist_innen gut zehn Jahre früher vorschwebte (vgl. Schneemann 2003). (*22) Nicht selten gaben diese einen idealen Betrachter_innen-Standpunkt vor, um eine eindeutige Wirkung und möglichst direkte Übertragung ihrer künstlerischen Intention sicherzustellen. Im Gegensatz zu dieser eng geführten Betrachtung entfesselte Kaprow das Kunsterlebnis. So konnten etwa die Besucher_innen seiner 18 Happenings in 6 Parts (1959) keine Idealperspektive einnehmen, sondern wurden durch die räumliche Anordnung und die zeitliche Überlagerung von Ereignissen in eine zwingend fragmentarische, subjektive Erlebnisperspektive versetzt. Sie begannen mit der künstlerischen Vorgabe und letztlich auch untereinander zu interagieren.
Das Interesse an einer solchen Entfesselung der Betrachtung setzte Bourriaud in den 1990er Jahren in den Zusammenhang neuer kultureller Rahmenbedingungen. In seiner Publikation argumentiert er anhand von Überlegungen und mittels eines Vokabulars, die eng an die damals fortschreitende Digitalisierung, die Dienstleistungsgesellschaft und die zugleich erstarkte Do-It-Yourself-Bewegung gebunden waren. Obwohl ihm Claire Bishop, die den Diskurs über partizipative Kunst in den 2000er Jahren maßgeblich prägte, später vorhielt, nur das Vokabular ausgetauscht zu haben, eigentlich aber eine Sache zu beschreiben, die bereits in den 60er Jahren aktuell war (vgl. Bishop 2004: 53), (*2) traf Bourriaud mit seinen Relational Aesthetics den Puls der Zeit.
Marcel Bleuler ( 2020): Partizipation in der zeitgenössischen Kunst. Von der postmodernen Condition d’Etre hin zu einer Destabilisierung der Kunstwelt[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/partizipation-in-der-zeitgenoessischen-kunst/