Partizipation in der zeitgenössischen Kunst

Von der postmodernen Condition d’Etre hin zu einer Destabilisierung der Kunstwelt*1 *(1)

Unschärfe als neue Perspektive von Partizipation

Meines Erachtens steht Kester für eine sich aktuell vollziehende Neuperspektivierung von Partizipation in der bildenden Kunst. Die eben beschriebene Unschärfe stellt dabei ein zentrales Element dar. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass es sich dabei um eine anders gelagerte Unschärfe handelt als jene, die ich einleitend in Bezug auf den Kunstdiskurs um die Jahrhundertwende angesprochen habe. Um dies deutlich zu machen, will ich die diskursiven Eckpfeiler, innerhalb derer ich Partizipation in der jüngsten Kunstgeschichte verortet habe, rekapitulieren und zusammenführen.

Die Ausgangsbeobachtung des vorliegenden Textes besteht darin, dass dem von Künstler_innen und Kurator_innen in den 1990er Jahren angestoßenen Diskurs kein rigoroser Begriff von Partizipation zugrunde lag. Wie ich argumentiert habe, ging es damals primär um Bestrebungen, den Vorgang der Kunstbetrachtung zu entfesseln und zu subjektivieren. Den Betrachter_innen wurden Spielräume und kontingente, interaktive Erlebnisperspektiven eröffnet. Die Bestimmung über das Gesamtsetting der Arbeiten blieb jedoch den Künstler_innen vorbehalten, die kaum aus ihrer Autoritätsposition heraustraten. Insofern markiert das Stichwort Partizipation hier primär das Bestreben, das Publikum aus seiner herkömmlich zugedachten Position herauszuführen, die sich auf eine innerliche Kontemplation beschränkt und einem Nachvollziehen der künstlerischen Intention verbunden ist. Unter dem Stichwort der Partizipation werden die Betrachter_innen durch spezifische Projektanlagen zu handelnden Figuren der Kunst. Der Begriff steht damit für eine neue, postmoderne Konzeption von Kunstbetrachtung.

Das Fundament dieser Neukonzeption bildet unter anderem die anti-kapitalistische Kritik, verkörpert von Guy Debords Publikation Société du Spectacle (1967),star (*8) die von der Kunstwelt geradezu gierig aufgenommen wurde.*7 *(7) Vor dem Hintergrund von Debords Kritik ließ sich eine Kunst, die unmittelbare Interaktion fördert, als politisch betrachten. Sie ließ sich als kritische Reaktion auf die postmoderne Condition d’Être anpreisen, die mit dem Unbehagen assoziiert war, in einer zusehends medial vermittelten Welt manipulativen Kräften und unmarkierten Ideologien ausgeliefert zu sein. Partizipation wurde mit dem Versprechen verbunden, den „participants“ die Erfahrung von Unmittelbarkeit zurückzubringen und ein Eingreifen zu ermöglichen.

In diesem Kontext setzte sich der Anspruch fest, dass es im Zusammenhang mit Partizipation um eine Selbstermächtigung und Demokratisierung geht. Wie Bishop und Rancière kritisch anmerkten, löste sich dieser politische Anspruch keineswegs automatisch ein. Er führte jedoch zu einer deutlichen Erweiterung des Kunstdiskurses um gesellschaftliche und politische Fragen (respektive Behauptungen). In dieser Erweiterung liegt ein bis heute wirksamer Gewinn für die Kunstwelt, da Kunst eine erhöhte gesellschaftliche Relevanz zugeschrieben wird. Bei genauer Betrachtung erscheint es jedoch höchst zweifelhaft, ob mit ihm auch positive gesellschaftliche Effekte stattgefunden haben.

An diesem Punkt kommt nun Grant Kester ins Spiel. Während seine Antagonistin Claire Bishop kritisch diskutierte, inwiefern künstlerische Projekte demokratische Strukturen erzeugen, zieht er zumindest implizit in Frage, inwiefern Kunst überhaupt ein demokratischer gesellschaftlicher Bereich sein kann. Unter seinem Begriff der dialogischen Ästhetik macht Kester deutlich, dass Partizipation nur dann möglich ist, wenn die Privilegiertheit und die Abgrenzung der Kunstwelt zur Disposition gestellt werden. Nur wenn Kunst aus ihrem Bereich heraustritt, wenn sie sich mit Praktiken und Anliegen aus anderen kulturellen, gesellschaftlichen Bereichen verbindet und damit auch ihre Erkennbarkeit ‚als Kunst‘ aufs Spiel setzt, kann Partizipation im Sinne von Öffnung, Dialog und gleichberechtigter Teilhabe stattfinden.

Die Brisanz von Kesters Position wird indirekt deutlich, wenn man beobachtet, wie prägende Autor_innen wie Claire Bishop oder auch Mainstream-Künstler_innen wie Marina Abramović die herkömmliche Abgrenzung verteidigen. Während Bishop das Einhalten der ästhetischen Kategorien der Kunstwelt für zwingend hält, und Abramović ihre stark von Meditationstechniken und Askese geprägten Performances durch ästhetische Rahmungen von ebendiesen Bezügen abhebt, plädiert Kester gerade für die Unschärfe, gegen die sie sich stellen.

Seine Perspektive drängt die Frage auf, ob ein rigoros umgesetzter Begriff von Partizipation unweigerlich zu einer Auflösung der Kunstwelt als einem abgegrenzten und privilegierten Bereich führt. In dieser Frage liegt natürlich eine Bedrohung für all jene, die von der Abgrenzung der Kunstwelt profitieren, da sie ihre Expertise oder ihre Aussicht auf wirtschaftlichen Ertrag in Frage gestellt sehen. Andererseits birgt sie ein Potenzial für jene Praktiken und Personen, die von der Kunstwelt bis anhin diskriminiert werden.

Kesters ent-grenzender Haltung erscheint mir gerade mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in den definitionsmächtigen Metropolen der westlichen Kunstwelt produktiv. Durch die jüngsten Migrationsbewegungen treffen hier Menschen mit verschieden ausgeprägten Fähigkeiten und Interessen zusammen. Es liegt auf der Hand, dass dabei die stärker gestellte Partei bestehende Ein- und Ausschlüsse sowie Übereinkünfte darüber erhärten kann, was Kunst ist und wo ihre Grenzen etwa zu Handwerk, Popkultur oder Soziokultur liegen. Wenn der Situation aber mit der bei Kester angelegten Offenheit begegnet wird, dann birgt das Zusammenkommen das Potenzial einer Neuformierung. Wenn eine unscharfe Konturiertheit künstlerischer Arbeit und eine Offenheit gegenüber anderen kulturellen Praktiken zugelassen werden, wenn undeutlich sein darf, ob etwas ein Community- oder ein Kunst-Projekt, Tradition oder Performance, Kaligraphie oder Malerei ist, dann wird nicht nur der Kunstbegriff neu verhandelt, sondern auch eine inklusive Haltung gestärkt.

Hält man sich die von Migration geprägten Lebenswelten vor Augen, dann tritt nicht die von Bishop beschworene Destabilisierung von Gemeinschaft, sondern im Gegenteil: das Ringen um ein In-Beziehung-Treten in einer ohnehin instabilen, von Ungleichheit und Segregation geprägten Welt in den Vordergrund. Bishops Zugang zu Partizipation, der auf der Logik von Abgrenzung und Distinktion basiert, ist für diese Situation nicht operationalisierbar. Kester hingegen zeigt hier eine Perspektive auf. Er macht deutlich, dass es nicht auf eine (soziale oder ästhetische) Distinktion, sondern auf ein dialogisches Handeln ankommt, das von der Bereitschaft getragen ist, herkömmlich Zu- und Einordnungen zu überwinden und eine Veränderung zuzulassen.

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Aker, Matthew [Regie] (2012): The Artist is Present: Marina Abramović. Dokumentarfilm, DVD, 1 Std. 46 Min., Vereinigte Staaten.

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Bishop, Claire (2004): Antagonism and Relational Aesthetics. In: October. H. 110, S. 51-79.

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Bishop, Claire (2006): The Social Turn: Collaboration and its Discontents. In: Artforum. Bd. 44, S. 94-103.

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Bishop, Claire (2011): Participation and Spectacle: Where Are We Now? (Vorlesungsmanuskript). Online unter https://de.scribd.com/document/279750022/Participation-and-Spectacle-Where-Are-We-Now-Bishop (12.12.2018).

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Bishop, Claire (2012): Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship. New York: Verso.

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Kester, Grant (2011): The One and the Many. Contemporary Collaborative Art in a Global Context. Durham; London: Duke University Press.

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Kester, Grant (2015): On the Relationship between Theory and Practice in Socially Engaged Art. Online unter http://www.abladeofgrass.org/fertile-ground/on-the-relationship-between-theory-and-practice-in-socially-engaged-art/ (12.12.2018).

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Paech, Joachim (1990): Rette, wer kann ( ). Zur (Un)Möglichkeit des Dokumentarfilms im Zeitalter der Simulation. In: Blümlinger, Christa (Hg.): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien: Sonderzahl, S. 110-124.

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Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita/Baumgartinger, Persson Perry (2019): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion. Bielefeld: transcript.

Die für das ausgehende 20. Jahrhundert typische, pejorative Sicht auf die Figur der Zuschauer_in fasst der Philosoph Jacques Rancière 2007 rückblickend so zusammen: „Being a spectator means looking at a spectacle. And looking is a bad thing, for two reasons. First, looking is deemed the opposite of knowing. It means standing before an appearance of the reality that lies behind it. Second, looking is deemed the opposite of acting. He who looks at the spectacle remains motionless in his seat, lacking any power of intervention. Being a spectator is separated from the capacity of knowing just as he is separated from the possibility of acting.” (Rancière 2007: 272)

Ähnlich wie Rancière distanziert sich Bishop selbst von der viel zitierten Referenz auf Debord: „For many artists and curators, Guy Debord’s indictment of the alienating and divisive effects of capitalism in the Société du Spectacle (1967) strikes to the heart of why participation is important as a project: It rehumanizes – or at least de-alienates – a society rendered numb and fragmented by the repressive instrumentality of capitalism.” (Bishop 2004: 179f.)

Rancière illustriert solche Versuche mit den paradigmatischen Ansätzen von Bertold Brechts epischem Theater (das die Zuschauer_innen mittels Unterbrechungen der Narration immer wieder aus der vorgespiegelten Realität herausriss), und von Antonin Artauds Theater der Grausamkeit (das das Publikum so weit konfrontierte und unter Druck setzte, bis es selbst unterbrechend reagierte).

Die Teilnahme beschränkte sich auf ein stark eingegrenztes Handlungsspektrum. Die Besucher_innen konnten sich hinsetzen, der Künstlerin in die Augen sehen und wieder aufstehen. Zeigten sie individuelle, unerwartete Reaktion, wurden sie vom Sicherheitspersonal sofort abgeführt (vgl. Aker 2012).

„So much of the art world, especially the art world that is concerned with contemporary art, is sustained by the buying and selling of art. And there is, not surprisingly, a very strong desire among the curators, historians and critics whose professional identities are largely dependent on this world, to believe that the work they discuss retains some subversive, critical or antagonistic charge, while any work that seeks to operate outside of, or challenge, the ideological and institutional protocols of this world is naïve, politically misguided or sentimental.” (Krenn/Kester 2013: 11)

Diese ‚Gier‘ der Kunstwelt, die mit Debords Société du Spectacle verbundene, anti-kapitalistische Kritik aufzunehmen, beschreibt Claire Bishop im Manuskript einer Vorlesung von 2011, die online zugänglich ist (vgl. Bishop 2011). Sie wird zudem von Rancières polemischer Beschreibung illustriert, wonach sich unter dem Stichwort „Spectacle“ ein kritisches Bewusstsein im Kunstdiskurs markieren lässt (vgl. Rancière 2007: 272). Zudem fällt sie auch im Zusammenhang mit Pierre Huyghes Werk auf, das oftmals unter dem Begriff diskutiert und vermittelt wird.

Marcel Bleuler ( 2020): Partizipation in der zeitgenössischen Kunst. Von der postmodernen Condition d’Etre hin zu einer Destabilisierung der Kunstwelt[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/partizipation-in-der-zeitgenoessischen-kunst/