Nährboden kultureller Bedeutungsproduktion: Räume zwischen ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘
Eine (Neu-)Verhandlung kultureller Bedeutungszuschreibungen und somit Austausch über verschiedene Deutungen kommt – wie bereits skizziert – vor allem dann zustande, wenn unterschiedliche Haltungen, Perspektiven und Einstellungen artikuliert werden (können). Denn erst in der Konfrontation mit differenzierten, durchaus auch widerläufigen Haltungen oder Perspektiven, werden Reflexions- und Wahrnehmungsprozesse in Gang gesetzt. Diese Konfrontation mit widerläufigen Perspektiven ist eine jener gesellschaftlichen Funktionen, die dem Bereich der Künste zugesprochen wird.*9 *(9) So referenzieren künstlerische Produktionen Phänomene jener Welt, die uns umgibt, d.h. sie reflektieren einen kulturellen Status quo und beziehen sich – durchaus kritisch – auf das, was in Alltagspraxen als gängige kulturelle Bedeutungszuschreibungen sichtbar wird. Sie intervenieren – oft explizit, zuweilen nur implizit – in das, was aktuell als Kultur verstanden und gelebt wird (vgl. Lang 2014a). (*13) Gleichzeitig weisen künstlerische Produktionen und ihre Artefakte in Form von imaginativen Darstellungen/Bezügen, Assoziationen und künstlerischen Verfahren über diese Alltags‐ bzw. phänomenalen Bezüge hinaus, ja distanzieren sich von diesen. (vgl. Lang 2015: 60f.) (*15)
Diese Distanz,*10 *(10) in die Kunst parallel bzw. analog zu dem tritt, worauf sie sich bezieht, wird – Ernst Cassirer folgend – als Spezifikum von Kunst als kulturelle(s) Symbol und Praxis verstanden: „Die Kunst lässt die Formen der Welt sehen, ohne diese zu erklären.“ Denn während andere kulturelle Symbole und Praxen – wie etwa die Wissenschaft oder auch Sprache – die „Wirklichkeit strukturell zu erklären“ suchen, „evoziert der Symbolismus der Kunst im Betrachter ästhetische Erlebnisse, die reicher und komplexer sind als die Sinneserfahrungen des Alltags“ (Cassirer 1990, zit. in Paetzold 2008: 92). (*20)
In partizipatorischen, kollaborativen und intervenierenden Kunstpraxen lässt sich erkennen, wie gezielt und vor allem kritisch in einen kulturellen Status quo eingegriffen wird und Impulse für kulturelle Neuverhandlungen gesetzt werden können. Speziell künstlerische Interventionen erheben den Anspruch, sich in gesellschaftspolitische Probleme einzumischen und Impulse für eine Neuverhandlung gegebener kultureller Zuschreibungen zu setzen. So wird ein soziokultureller Anspruch markiert, der exakt jenen Raum, zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, eröffnet. Dieser kann im Sinne einer relationalen Ästhetik (vgl. Bourriaud 2009) (*3) als relationaler und –im Sinne der Distanz als wesentliche Eigenschaft von Kunst – als temporärer imaginärer Zwischenraum, als partizipativer Raum zwischen ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘*11 *(11) interpretiert werden. Als „Alternative zu der Produktion von neuem Wissen“ stehen in künstlerisch-partizipatorischen Projekten Umdeutungsprozesse, das Aufzeigen von Alternativen, ein erweitertes oder differenziertes Interpretationsspektrum oder auch die Deformierung einer bestehenden Perspektive im Vordergrund. So ist es gerade der Aspekt der Imagination, der in Wissensprozessen im Kontext von Kunst „durch den Versuch, Wirklichkeit zu transformieren“ (Royo/Sánchez/Blanco 2012, S. 29) (*21) Wissen produziert.
Diese (Zwischen)Räume als partizipative Räume benötigen folglich eine Anbindung an die Lebenswelten der Teil-werdenden Individuen, die ja gleichzeitig Teil des Raumkonstrukts und der Raumkonstitution sind. Denn erst diese Anbindung, die u.a. das Einbringen von Vorwissen, das Einlassen auf unkonventionelle Erfahrungen und damit Ausprobieren alternativer Perspektiven oder Handlungen ermöglicht, befähigt sowohl zur ästhetischen Teilhabe als auch zu einer kompetenten Teilhabe an (kulturellen) Aushandlungsprozessen (vgl. Klaus 2012). (*12) Solche partizipativen Räume entstehen dabei oft aus dem Bedürfnis nach (mehr) öffentlicher Sichtbarkeit und Kommunikation. In diesem Sinne können diese räumlichen Konstitutionen (auch) als temporäre Kommunikationsräume verstanden werden, in denen sich verschiedene Diskursstränge verdichten und alternative, vielschichtige Diskurspositionen Platz und Gehör finden – und nach einer Auseinandersetzung, einer Konfrontation verlangen. Damit verfügen diese Räume über jene „auf Interaktion und Differenz beruhende Raumkonstitution“, die als „Quelle von Widerständigkeiten“ „Voraussetzungen für alternative Entwicklungspfade“ und so „eine Basis für das Neue“ (Massey 2003: 40) (*17) schafft bzw. schaffen kann – und als Nährboden für kulturelle Produktionsprozesse angesehen werden können.
Siglinde Lang ( 2015): Partizipative Räume als Nährboden kultureller Bedeutungsproduktion. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 06 , https://www.p-art-icipate.net/partizipative-raume-als-nahrboden-kultureller-bedeutungsproduktion/