Das Projekt SISI: Ein „Spekulatives Institut für Soziale Interventionen“

Gab es theoretische Bezugspunkte für die Entwicklung des Projekts?

 

JPL: Da ist der Begriff der Gemeinschaft, mit dem wir uns im Rahmen unserer Arbeit intensiv auseinandersetzen, und jener der Gesellschaft, der ersterem zwar ähnlich ist, aber nicht das Gleiche meint. Wir stellen uns die Frage, inwieweit die Verwendung des Begriffs Gesellschaft überhaupt noch sinnvoll ist, ob kollektive Identität – was eine Umschreibung von Gesellschaft sein kann – in einer Welt, die so divers ist, überhaupt existiert oder ob Gemeinschaft ein Begriff ist, der näher am Menschen und dadurch auch leichter zu diskutieren ist. Ich finde in diesem Kontext den deutschen Soziologen Hartmut Rosa wichtig. Er befasst sich viel mit dem Thema Resonanzen. Rosa beschreibt das Paradoxon, dass eine Empathie-Leere bestehe, obwohl Empathie eigentlich die Grundlage eines gemeinschaftlichen Umgangs miteinander sein sollte. Wichtig ist, dass man lernt, aufeinander einzugehen, um aufeinander reagieren zu können und auch miteinander resonieren zu können – eben ein empathischer Umgang miteinander. Mit Umgang meine ich ganz grundlegende Verhaltensweisen, worauf eine offene Gemeinschaft basieren muss. Hinzu kommt die Frage, inwiefern das Digitale ein empathisches Miteinander unterstützt oder dem entgegenwirkt. Byung-Chul Han hat viel über diese spannende Frage geschrieben. Er fragt, inwiefern Gemeinschaften in der digitalen Zeit überhaupt existieren würden. Daraufhin führt er den Begriff des Schwarms ein, als zufällige Ansammlung von Menschen, die genauso schnell wieder verschwinden, wie sie auftauchen. Ich würde das als eine flashmobartige Gesellschaft beschreiben.

TM: Uns beschäftigt also die grundlegende Frage, die man sich in einer Welt stellt, in der so viel Individualismus herrscht: Inwiefern kann hier eine Gemeinschaft überhaupt existent sein und wie wichtig ist sie? Inwiefern vermisst man diese Gemeinschaft in Zeiten wie diesen, in denen coronabedingt alles in den digitalen Raum übergeht? In der gegenwärtigen Situation merkt man besonders, wie wichtig Zusammensein und physisches Miteinander sind.

JPL: Speziell für mich ist auch die Frage interessant, welche Rolle bei solchen Fragen das Digitale spielt. Felix Stalder hat den Begriff der Digitalität geprägt, den ich sehr interessant finde. Damit versucht er, einen Gegenbegriff zu sehr technischen Begriffen wie Digitalisierung oder digitale Transformation zu etablieren. Beim Begriff der Digitalität geht es eher darum, wie im Digitalen Kultur und Gemeinschaft entstehen können. Welche Rituale brauchen wir dafür? Welche Gesprächskultur brauchen wir dafür? Das sind für mich sehr spannende Fragen, mit denen wir auch im Rahmen von SISI experimentiert haben.

Was bedeutet Vermittlungsarbeit für euch als Grundhaltung innerhalb des Projektes SISI?

 

JPL: Als Künstler*in entdeckt man immer Themenfelder, die einen besonders interessieren, die man selbst als relevant erachtet und die auch den jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs prägen oder geprägt haben. Meistens ist der erste Zugang ein sehr persönlicher, weil die erste Verarbeitung von Themen einfach sehr unterschiedlich und persönlich ist. Wenn es aber darum geht, im weiteren Schritt partizipative oder kollaborative, offene Formate zu entwickeln, widerspricht die Herangehensweise dem anfänglich individuellen Zugang. Wo man am Ende landet, sollte das Gegenteil davon sein, wo man am Anfang gestartet ist. Deswegen ist es schon die Krux, abhängig von der Zielgruppe oder den Zielgruppen, Formate zu schaffen, die diese Erfahrung vermitteln können. Das war uns auch bei SISI wichtig. Wir haben stets klar formuliert, dass wir uns nicht als Expert*innen sehen, die Expertisen vielmehr vor Ort bei den Bewohner*innen liegen. Wir waren in diesem ‚Grätzel‘ – also im 9. Bezirk in Wien – fremd. Wir sind für zehn Tage dorthin gekommen und wir waren diejenigen, die am wenigsten Ahnung vom Leben dort hatten.

TM: Der Hauptpunkt in dem Projekt war es deshalb, mit den Menschen zusammen Erfahrungen zu machen und Wissen zu generieren. Natürlich gab es ein grundlegendes Konzept: Wir veranstalteten zu unterschiedlichen Themen Stadtspaziergänge, zu denen wir jeweils Expert*innen eingeladen hatten. Dementsprechend legten wir im Vorfeld auch bestimmte thematische Schwerpunkte fest, wie z.B. Nutzungsalternativen von Leerständen, Sprache und Kommunikation im öffentlichen Raum, Orte der Gemeinschaft, Stadt und Verkehr oder Stadt und Natur. Einen Rahmen zu schaffen, war für uns schon zentral. Wie gesagt sahen wir uns aber nicht als Expert*innen. Die Idee war vielmehr, dass alle Teilnehmenden, uns eingeschlossen, im Laufe dieses Spazierganges in einen Diskurs kommen und durch die Erfahrung anderer neues Wissen generieren. Eigentlich waren unsere Stadtspaziergänge eine Art gegenseitige Wissensvermittlung.

JPL: Jede*r konnte mitmachen und das Ziel war immer, dass wir einen neuen Raum erzeugen. Neue Räume haben wir NRC, Neue Räume der Commons, genannt. Das Key Feature am Ende des Projektes war eine Art offenes digitales Forum, das Leute zu einem bestimmten Thema an einem bestimmten Ort in der Stadt gegründet haben. Wie zu Beginn bereits kurz angesprochen, konnten sie nach dem Einloggen Inhalte teilen und sich zu verschiedensten Themen austauschen. So entstanden Orte, an denen man seine Lieblingsmusik teilen und hören konnte, ein NRC wurde zum digitalen Dating-Room, ein anderer wiederum zum Archiv kommentierter Wahlplakate und viele mehr.

TM: Es gab natürlich Situationen, in denen der Aspekt der gegenseitigen Wissensvermittlung stärker war. Einmal hat uns zum Beispiel eine Schulklasse besucht. Einerseits haben uns die Schüler*innen zugehört, aber andererseits gab es auch Situationen, in denen sie uns etwas aufgezeigt haben und wir auf sie gehört haben. Das war total schön, als sich die zwei Seiten von Wissenden und Zuhörenden vermischt und aufgelöst haben. Bei den Spaziergängen mit den Expert*innen war es hingegen so, dass wir eher die Vermittler*innen zwischen den Expert*innen und den Spaziergangsteilnehmenden waren. Wir haben die Plattform aufgemacht und versucht, Gruppen zusammenzuführen. Ich will nicht zu viel über die Dinge reden, die in diesen zehn Tagen schwierig waren, sondern eher über die guten, aber es war ein Problem, dass wir neu waren, dass wir sozusagen von außen hinzugekommen sind und dass wir nicht einmal in Wien leben. Wir hatten keine Community, auf die wir zurückgreifen hätten können. All das hat die dortige Umsetzung unseres Projekts erschwert.