Die Stadt ist unsere Fabrik
Städte waren seit jeher Orte von sozialen Protesten und Revolten (Hobsbawn 1977: 302 ff.) (* 17 ) und lange Zeit Maßstab und Gegenstand einer sozialen Regulation der kapitalistischen Staatlichkeit. Regionalplanung und Wohnbauprogramme standen im 20. Jahrhundert für die Versuche, gesellschaftliche Konflikte in den entwickelten Industrieländern auf lokalstaatlicher Ebene zu lösen und zu befrieden (Brenner 1997) (* 5 ). In den Jahren der fordistischen Organisation kapitalistischer Gesellschaften sicherten regionale Entwicklungspläne die räumlichen Grundlagen einer industriellen Produktion. Programme eines staatlichen Wohnungsbaus zielten nicht nur auf eine angemessene Versorgung der Facharbeiterfamilien, sondern in Gestalt sozial gemischter Wohnquartiere und von Eigenheimsiedlungen auch auf eine Befriedung der gefährlichen Klassen (Belina 2006) (* 3 ).
Stadt war im 20. Jahrhundert der Ort und Gegenstand staatlicher Regulierung – hier wurden die Rahmenbedingungen der industriellen Produktion und fordistischen Regulierung gelegt. Manuel Castells schrieb den Städten deshalb als Orten der „kollektiven Konsumption“ eine eigenständige Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Organisation zu (Castells 1977) (* 6 ). In Abgrenzung zu Kapitalverwertungsprozessen der Industrie wurde die Besonderheit des Städtischen in ihrer Funktion für die Versorgung mit vom Markt und von einzelnen Individuen nicht zu leistenden Ressourcen angesehen. Castells ging davon aus, dass ein bestimmtes Feld städtischer Infrastruktur, wie etwa Wasserversorgungssysteme oder der öffentliche Nahverkehr, von einzelnen Marktakteuren nicht effektiv gelöst und betrieben werden kann und dies deshalb als gemeinschaftliche Aufgaben anzusehen ist. Diese als „kollektive Konsumtion“ bezeichneten Reproduktionsfunktionen werden – so die Annahme – im Kontext eines räumlich begrenzten Systems gesellschaftlich organisiert und bereitgestellt. Sie waren und sind umkämpfter Gegenstand sozialer Bewegungen und politischer Interventionen.
Michael Hardt und Toni Negri diskutieren in ihren Texten die heutige Bedeutung der Metropolen für die Multitude, die Menge, die für die beiden Autoren auch für die Vielfalt von Subjekten steht, und verweisen auf einen fundamentalen Wechsel der Bedeutung des Städtischen für die Produktionsverhältnisse. „Die Metropole“ – so Hardt und Negri – beschrenke sich nicht mehr länger auf ihre Reproduktionsfunktionen, sondern entwickle sich zum zentralen „Ort biopolitischer Produktion, weil sie der Raum des Gemeinsamen ist, der Raum von Menschen, die zusammen leben, Ressourcen teilen, kommunizieren und Waren und Ideen tauschen“ (Hardt/Negri 2010: 110) (* 12 ). Die Grundlage der (biopolitischen) Produktionsbeziehungen sehen sie im Zugang zum in den Metropolen enthaltenen Reservoir des Gemeinsamen, das sich in „Sprachen, Bildern, Ideen, Affekten, Codes, Gewohnheiten und Praktiken“ manifestiere (Hardt/Negri 2010: 110) (* 12 ). Stadt ist dabei nicht länger der reproduktive Rahmen und Container einer industriellen Produktion, sondern wird selbst zur Produktivkraft: „Was die Fabrik für die industrielle Arbeiterklasse war, ist die Metropole für die Multitude“ (Hardt/Negri 2010: 109) (* 12 ). Metropolen sind in dieser Perspektive vor allem verdichtete gesellschaftliche Verhältnisse und stellen für die Multitude Orte der Produktion, der Begegnung und Organisation sowie des Widerspruchs und der Rebellion dar (Hardt/Negri 2010: 110) (* 12 ).
Mit dem Übergang von der Industrie- zur Wissensökonomie sei nicht nur eine räumliche Verschiebung gesellschaftlicher Konfliktlinien verbunden, sondern auch ein fundamentaler Wechsel der Produktionsbeziehungen: „Im Gegensatz zur Großindustrie jedoch ist dieser biopolitische Produktionszyklus zunehmend unabhängig vom Kapital, denn seine Kooperationsstrukturen entstehen erst während des Produktionsprozesses, und jeder Versuch, diesen von oben vorzugeben, hemmt die Produktivität.“ (Hardt/Negri 2010: 110) (* 12 )
Die Qualitäten des Städtischen werden also nicht mehr als etwas den Produktionsverhältnissen Äußerliches angesehen, sondern als Quelle der Produktivität. In dieser Perspektive haben sich folgerichtig auch die Formen der Inwertsetzung gesellschaftlicher Produktivität – so Hardt und Negri – verschoben: „Während die Industriefabrik also Profit generiert, weil ihre Produktivität vom Kooperations- und Kommandoschema des Kapitalisten abhängt, generiert die Metropole in erster Linie Grundrente, denn sie ist die einzige Möglichkeit, wie das Kapital des autonom geschaffenen Reichtums habhaft werden kann.“ (Hardt/Negri 2010: 110) (* 12 ) Die Produktion des Gemeinsamen sei zunehmend nichts anderes als das Leben der Stadt selbst, denn die (biopolitische) Produktion integriert zunehmend alle Räume zu Räumen der Produktion. Hardt und Negri sehen deshalb in den Immobilienwerten eine „Ausdrucksform des Gemeinsamen“, weil darin die Umgebungsqualitäten als externe Effekte im Preisbildungsprozess berücksichtigt werden.
Doch der Gebrauchswert der Städte lässt sich nicht auf konsumtive oder produktive Funktionen beschränken, sondern ist immer beides. Auch städtische Mobilisierungen, wie sie in den Recht-auf-Stadt-Bewegungen sichtbar werden, greifen beide Funktionen des Städtischen auf. Als Forderungen zur Qualität und Ausstattung kommunaler Leistungen und Infrastrukturen (etwa in Kampagnen gegen die Privatisierung von Wasserbetrieben oder gegen die Schließung eines städtischen Schwimmbades) orientieren sie sich an den klassischen Funktionen der Stadt als Ort der kollektiven Konsumtion. Mobilisierungen gegen die Verdrängung aus bestimmten Stadtteilen und für den Erhalt von Freiräumen hingegen richten sich auch auf die Produktivität des Gemeinsamen in einer Wissensökonomie.
Andrej Holm ( 2013): Recht auf die Stadt – Soziale Bewegungen in umkämpften Räumen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/recht-auf-die-stadt-soziale-bewegungen-in-umkampften-raumen/