Salzburg – München – Zürich

Drei Fallstudien zu drei Orten, die exemplarisch Gemeinsamkeiten und Unterschiede künstlerischer Interventionen aufzeigen

Fallstudie 3: Zürich
Die ganze Welt in Zürich: Ist eine Stadtbürger*innenschaft für Zürich denkbar?

von Stefanie Niesner

Die Schweiz gilt heute als eines der beliebtesten Einwanderungsländer in Europa. Hochqualifizierte Fachkräfte aus den umliegenden Staaten emigrieren und stärken die lokale Wirtschaft, Geflüchtete bringt ihre Suche nach Sicherheit in das kleine Alpenland, und historisch gesehen blieben zahlreiche italienische und portugiesische Gastarbeiter*innen hier. Trotz der vielfältigen kulturellen und sprachlichen Unterschiede dieser Einwanderergruppen ist ihnen jedoch eines gemein – ohne Schweizer Pass fehlt es ihnen auf vielen Ebenen an Mitbestimmungsrechten und Partizipationsmöglichkeiten, und das, obwohl die Immigrant*innen beinahe ein Viertel der ansässigen Bevölkerung ausmachen, besonders im beliebten Einwanderungsziel Zürich. Besonders deutlich wird diese Situation, wenn in jenem, grundsätzlich basisdemokratischen Staat über Belange abgestimmt wird, welche explizit auf diese Bevölkerungsgruppe abzielen – wie etwa die Masseneinwanderungs*12 *(12)– oder Durchsetzungsinitiative*13 *(13) – wobei dies die Frage aufwirft, wie demokratisch eine Demokratie ist, wenn ein Viertel der Bevölkerung von der Mitbestimmung ausgeschlossen wird.

Das Projekt Die ganze Welt in Zürich versteht sich als künstlerische Intervention in eben diese Thematik. Im Oktober 2015 startete die Shedhalle in Zürich, lokales Zentrum und Plattform für zeitgenössische Kunst und Think-Tank, das Projekt, um konkrete Möglichkeiten zu finden, direkt in die etablierte Schweizer Migrationspolitik zu intervenieren.*19 *(19) Dabei rückte ein Konzept in den Mittelpunkt, welches ausgehend von Thomas H. Marshalls Konzepten und Abhandlungen zum Begriff „Citizenship“ Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt und definiert wurde – die sogenannte Urban Citizenship (vgl. Marshall 1950 (2012)),star (*10) eine Stadtbürger*innenschaft, die parallel zur Staatsbürgerschaft verlaufen soll. Während mit der Staatsbürgerschaft fundamentale Rechte, wie etwa Freizügigkeit innerhalb der nationalstaatlichen Territorialgrenzen oder, im Falle der Schweiz, politische Eingriffsmöglichkeiten in die Verfassung gewährleistet werden, beschreibt die Urban Citizenship eine städtische beziehungsweise regionale Abgrenzung, welche eine Ausweitung der Mitspracherechte und Partizipationsmöglichkeiten auf urbaner Ebene, also in diesem Fall ausschließlich in Zürich, zur Folge hätte. Dieses Recht bezieht sich weder auf die Abstammung noch die Herkunft der einzelnen Person, sondern auf den Ort des Lebensmittelpunkts, den er*sie gewählt hat.

Katharina Morawek, kuratorische Leiterin und Geschäftsführerin der Shedhalle, entwickelte das Projektkonzept zusammen mit dem österreichischen Künstler Martin Krenn, welcher bereits zahlreiche Projekte im Zusammenhang mit Sozialer Kunst verwirklicht hat.*17 *(17) In Folge wurde ein interdisziplinäres Team mit Expert*innen aus unterschiedlichsten Bereichen zusammengestellt, das das Projekt im Detail entwickelte – zum Kernteam zählten, unter anderem Bah Sadou (Aktivist, Autonome Schule Zürich), Bea Schwager (Leiterin SPAZ), Dr. Kijan Malte Espahangizi (Zentrum „Geschichte des Wissens“, ETH/Universität Zürich UZH), Osman Osmani (Gewerkschaftssekretär für Migration, UNIA), Dr. Rohit Jain (Sozialanthropologe, UZH/Zürcher Hochschule der Künste ZHdK) und Tarek Naguib (Jurist, Zentrum für Sozialrecht/Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW). Gemeinsam mit diversen Entscheidungsträger*innen der Stadt Zürich, Politiker*innen, Aktivist*innen, Jurist*innen und Personen aus dem kulturellen Umfeld sollte ein Modell entwickelt werden, wie das Konzept der Urban Citizenship in Zürich umsetzbar wäre.

In zwei Formaten, den Hafengesprächen und den Hafenforen, wurde die Thematik bearbeitet. Das Bild des Hafens wurde bewusst gewählt, um damit einerseits eine sichere, neutrale Zone zu beschreiben, andererseits auch die Spielregeln der Treffen zu definieren. Es ging um Weltoffenheit, Mobilität und Sicherheit, darum, Zürich als sicheren Hafen für alle zu gestalten. Gestartet wurde das Projekt am 22. Oktober 2015 mit einer Schiffsfahrt, zu welcher politische Akteur*innen und Entscheidungsträger*innen eingeladen wurden. Dieses Ereignis paraphrasiert die bekannte Intervention des österreichischen Künstler*innenkollektivs Wochenklausur, die 1994 erfolgreich neue Perspektiven innerhalb der Zürcher Drogenpolitik schufen, in dem sie über eine Zeitspanne von acht Wochen hinweg solche Bootsfahrten und Gesprächsrunden mit Entscheidungsträger*innen organisierten.*14 *(14) Es folgten sieben Hafengespräche, welche bewusst unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten wurden, um für die Teilnehmenden einen geschützten Rahmen für eine umfassende Diskussion bieten zu können. sowie drei frei zugängliche Hafenforen in der Shedhalle in Zürich, in welchen die Ergebnisse der zuvor im geschützten Rahmen ausgehandelten Thematiken vorgestellt wurden. Das letzte Forum Wir alle sind Zürich wurde zum besonderen Erfolg – über 550 Interessierte erschienen, um über die Durchführbarkeit und Gestaltung der Urban Citizenship zu diskutieren.

Begleitet und abgeschlossen wurde das Projekt jeweils mit einer kleinen Ausstellung. Während der Hafengespräche und -foren wurden in der Shedhalle, dem räumlichen Abhaltungsort, Fotografien und Impressionen vergangener und aktueller Interventionen im Bereich der sozial engagierten Kunst gezeigt, und unter anderem an Litfaßsäulen angebracht. Besonders die gewählte Ausstellungsarchitektur trug dazu bei, einen offenen Raum für die Hafenforen zu schaffen, auf dem sich die Akteur*innen und das interessierte Publikum auf einer Ebene begegnen konnten ‑ und auch, um den Gedanken des Miteinanders, der Vernetzung und der Metapher einen sicheren Hafen zu schaffen, weiter zu transportieren.

Abschluss des Projektes bildet die finale Ausstellung Die ganze Welt in Zürich Vol. 2 beziehungsweise #Urbancitizenship – Stadt und Demokratie (der Name wurde zwischenzeitlich adaptiert) zwischen 2. Juni und 25. September 2016.*15 *(15) In diesem Rahmen werden die Ergebnisse des Projektes dem interessierten Publikum in künstlerisch aufgearbeiteter Form präsentiert. Das offizielle Ende soll schließlich ein im Herbst 2016 stattfindendes, viertes Hafenforum sein, in welchem die Ergebnisse des Projektes offiziell an die Stadt Zürich übergeben werden sollen.

Das Eingreifen in kontroverse Ausgangssituationen, wie die Schweizer Migrationspolitik eine darstellt, ist der Kern vieler Social Engaged Art-Projekte. Dabei können die Grenzen zwischen Kunst und Sozialarbeit oder Kunst und Politik schnell verschwimmen, wie es Martin Krenn auch in seinem Artikel beschreibt. Die Intervention sehe ich persönlich ganz basal in der Öffnung von neuen Diskussionsräumen für die Entscheidungsträger*innen der Stadt.

Noch ist offen, ob es tatsächlich zu einer Umsetzung dieses zukunftsweisenden Konzepts einer Stadtbürger*innenschaft in Zürich kommt, und wenn ja, wie diese aussehen wird. Doch eines wird deutlich ‑ obgleich in der Schweiz die Ambivalenz zwischen progressiven und auch quergedachten Projekten*16 *(16) gegenüber der reaktionären Bewahrung nationaler Identität und Traditionen immer sichtbarer wird, gibt es in diesem Land Platz für neue Ideen. Warum nicht auch für ein Urban Citizenship? In diesem Sinne: Ein demokratisches „Ja!“ für ein pluralistisches, neues Demokratieverständnis!

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von Borries, Friedrich/Wegner, Friederike/Wenzel, Anna-Lena (2012): Ästhetische und politische Interventionen im urbanen Raum. In: Doreen Hartmann, Inga Lemke u. Jessica Nitsche, Hg., Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie, München.

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Bahl, Eva/Pfeiffer, Zara S. (2015): mapping.postkolonial.net. Eine Spurensuche an den Rändern der Stadt und ihrer Geschichte. In: In: ZAG. Antirassistische Zeitschrift. 70/2015. S.20-22.

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Mouffe, Chantal (2014): Agonistische Politik und künstlerische Praktiken (Kap. 5). In: Dies.: Agonistik. Die Welt politisch denken. 1. Auf. Berlin: Suhrkamp, S. 145.

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Pfeiffer, Zara S. (2013): GESPENSTER/GE/SCHICHTEN. In: kulturrisse. Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik. 04/2013. Online unter: http://kulturrisse.at/ausgaben/Archiv%20der%20Migration%2C%20jetzt/oppositionen/gespenster-ge-schichten (Stand: 05.07.2016).

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Zimmerer, Jürgen: „Wer A sagt, muss auch N sagen“. In: taz.de. Online unter: http://www.taz.de/!5306461/ (Stand:05.07.2016).

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Zobl, Elke / Reitsamer, Rosa (2014): Intervene! Künstlerische Interventionen. Kollaborative und selbstorganisierte Praxen // Fokus: Antirassistische, feministische und queere Perspektiven. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 04. Online unter: https://www.p-art-icipate.net/intervene-kunstlerische-interventionen/ (Stand: 05.07.2016)

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„Bildlichkeit und Politik“. In: Glossar der Bild-Philosophie. Online unter: http://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Bildpolitik (Stand: 05.07.2016).

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„Der Genozid an den Herero und Nama“. In. „mapping.postkolonial.net”. Online unter: http://mapping.postkolonial.net/article/der-genozid-an-den-herero-und-nama (Stand: 05.07.2016).

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“Swakopmunder Straße”. In: „mapping.postkolonial.net“. Online unter: http://mapping.postkolonial.net/article/swakopmunder-strasse (Stand: 05.07.2016).

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Marshall, Thomas H. (1950): Citizenship and Social Class. And Other Essays, Cambridge 1950. In: Smith, Michael Peter/MacQuarie, Michael (Hg.) (2012): Remaking Urban Citizenship. Organizations, Institutions, and the Right to the City, New Brunswick(USA)/London(UK).

Seit 2004 werden von der Stadt Salzburg Stadtspaziergänge angeboten, bei denen man den Spuren bedeutender Salzburgerinnen folgen kann. Nähere Infos unter: https://www.stadt-salzburg.at/internet/leben_in_salzburg/frauen/frauen_stadtspaziergaenge.htm

Vgl. „Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik“, http://www.uni-klu.ac.at/frieden/inhalt/442.htm (20.06.2016).

Vgl. Michael Braun, „Erinnerungskultur“, http://www.kas.de/wf/de/71.7680/ (20.06.2016).

Vgl. http://www.ikufo.de/rueckgabe/intro.html (29.6.2016).

Das Labor k3000 ist eine Plattform für transnationale Netzwerk- und Rechercheprojekte, Ausstellungen, Video und Web-Produktionen.

Die Begriffe Ablagerungen und Spuren kommen in der Selbstbeschreibung des Projektes des Öfteren vor, eben um auf die bis heute andauernde Einschreibung des Kolonialismus in den öffentlichen Raum zu verweisen. Die kolonialen Ablagerungen und Spuren sind auch gegenwärtig noch präsent und keineswegs verschwunden, wie beispielsweise an Streitgesprächen über kolonialrassistische Bezeichnungen in Kinderbüchern, Kolonialstilmöbeln oder der Bezeichnung einer bekannten Supermarktkette, der Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler, deutlich wird. Allein an der öffentlichen Wahrnehmung und einem öffentlichen Diskurs über diese omnipräsenten Ablagerungen und Spuren mangelt es.

Die deutsche Kolonialvergangenheit wird an dieser Stelle gesondert hervorgehoben, da die eigene kolonialistische Verstrickung und Beteiligung in Deutschland nach wie vor gerne ignoriert bzw. minimiert wird. Ein aktuelles Beispiel hierfür stellt die Debatte um die Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika bzw. heutigen Namibia von 1904 bis 1908 dar. Insbesondere die offizielle Anerkennung des Armenien-Genozids durch den Deutschen Bundestag im Juni 2016 veranschaulicht die Doppelmoral der deutschen Politik. So wichtig die Anerkennung des Armenien-Genozids ist, wirkt sie vom Deutschen Bundestag doch scheinheilig, da eine Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama sowie eine öffentliche Entschuldigung für die damals begangenen Verbrechen nach wie vor ausstehen. Siehe: Jürgen Zimmerer: „Wer A sagt, muss auch N sagen“. In: taz.de. Online unter: http://www.taz.de/!5306461/ (Stand:05.07.2016).

Das Kartierungsprojekt „mapping.postkolonial.net“ beschäftigt sich auch mit den verborgenen Spuren, die an den Genozid an den Herero und Nama im Stadtraum München erinnern. Siehe: „Der Genozid an den Herero und Nama“. In. „mapping.postkolonial.net”. Online unter: http://mapping.postkolonial.net/article/der-genozid-an-den-herero-und-nama (Stand: 05.07.2016). Ein Beispiel einer kolonialen Ablagerung ist die Swakopmunder Straße: Swakopmund ist eine Stadt im Westen von Namibia, in der sich zur Zeit der Kolonie Deutsch-Südwestafrika ein Konzentrationslager befand, in dem Herero und Nama unter unmenschlichen Bedingungen zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Siehe: „Swakopmunder Straße”. In: „mapping.postkolonial.net“. Online unter: http://mapping.postkolonial.net/article/swakopmunder-strasse (Stand: 05.07.2016).

Rösser, Michael: „Übung 33221a ‚Kein Platz an der Sonne‘ – Deutscher (Post)Kolonialismus in Afrika. Grundzüge, Debatten, Methoden. Online unter: https://elearning.uni-regensburg.de/pluginfile.php/1009147/course/overviewfiles/Semesterplan%20-%20%C3%9Cbung%20Kein%20Platz%20an%20der%20Sonne%20SoSe%202016.pdf?forcedownload=1 (Stand:05.07.2016).

Dabei handelte es sich um eine Volksinitiative mit dem Titel “Gegen Masseneinwanderung”, welche im Jahr 2014 zur Abstimmung gebracht und angenommen wurde. Die Einwanderung soll durch Höchstgrenzen für Ausländer*innen und Asylwerber*innen künftig eingedämmt werden. Mehr Informationen: https://www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis413.html (16.07.2016).

Die Durchsetzungsinitiative (Durchsetzung der „Ausschaffung“ krimineller Ausländer) hingegen sollte eine weitere Verschärfung gegenüber der Masseneinwanderungtinitiative darstellen. Sie wurde 2015 zur Abstimmung gebracht und abgelehnt. Hierbei wurde gefordert, Ausländer*innen, die sich bestimmter Straftaten schuldig gemacht hätten, ohne Ausnahme in das (vermeintliche) Herkunftsland abzuschieben, eine Härtefallregelung per richterlichem Ermessen wäre nicht mehr möglich gewesen. Mehr Informationen: https://www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis433.html (16.07.2016).

Mehr Informationen: http://www.wochenklausur.at/projekte/02p_kurz_dt.htm (02.07.2016).

Beispielsweise die mutigen Statements bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität oder die (zwar gescheiterte) Kampagne für eine Volksabstimmung für das Bedingungslose Grundeinkommen 2016.

Veronika Aqra, Verena Höller, Stefanie Niesner ( 2016): Salzburg – München – Zürich. Drei Fallstudien zu drei Orten, die exemplarisch Gemeinsamkeiten und Unterschiede künstlerischer Interventionen aufzeigen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/salzburg-munchen-zurich/