Schulische Experimentierräume im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft
Ein interdisziplinärer Ansatz zur Vermittlung experimenteller Musik im Unterricht der Sekundarstufe II: Pädagogische Leitideen und Einblicke in das Projekt KLANGKÖRPER – KÖRPERKLANG
II. Pädagogische Leitideen
Die Vermittlung experimenteller Musik erfordert experimentellen Unterricht
Die Vermittlung eines Gegenstandes [sollte] diesem auch angemessen und ihm […] gewissermaßen adäquat und ‚ähnlich‘ sein […]. Bezogen auf den Gegenstand Kunst bedeutet dies, dass die Vermittlung durchaus kunstnah und damit selbst auch künstlerisch inspiriert sein sollte. Um Experimentelle Musik ‚adäquat‘ (in diesem Sinne) zu unterrichten, bedarf es eines durchaus experimentellen Zugangs zu Fragen der Didaktik und Methodik (Brandstätter 2011: 13–14). (*3)
Das schreibt Ursula Brandstätter aus der Perspektive einer der InitiatorInnen des großangelegten, seit dreizehn Jahren in Berlin existierenden und bereits mehrfach evaluierten Vermittlungsprojektes Querklang. Die Vermittlung experimenteller Musik erfordert Unterricht, in dem das Experiment die zentrale Methode darstellt. Die SchülerInnen müssen in der Auseinandersetzung mit experimenteller Musik demnach selbst experimentierend tätig werden können, sodass diese für die Lernenden in ihren Besonderheiten ‚(be-)greifbar‘ wird.
Diese Leitidee bezieht sich in erster Linie auf die Unterrichtsmethodik. Daran knüpfen sich allerdings einige pädagogische Konsequenzen, die sowohl Inhalt als auch Rahmenbedingungen des Unterrichts betreffen und sich vor dem Hintergrund von Überlegungen zum Begriff des Experiments erschließen:
Zum Begriff des Experiments
Recherchiert man diesen Begriff, so stößt man zunächst auf zwei sehr unterschiedliche Verwendungsweisen: Zum einen bezeichnet das Experiment eine methodisch besonders kontrollierte Art der Erkenntnisgewinnung, die einerseits der Entdeckung und Beobachtung einzelner Phänomene sowie der Prüfung von im Vorfeld aus Theorien entwickelten Hypothesen dient, andererseits aber auch zu Demonstrationszwecken eingesetzt wird (vgl. Brockhaus 2006: 648; (*5)Schulz/ Wirtz/ Starauschek 2012: 15 (*9)). Zum anderen wird der Versuch, das Wagnis, die Unternehmung mit ungewissem Ausgang als Experiment bezeichnet (vgl. Brockhaus 2006: 648). (*5)Dieses zweite Begriffsverständnis verweist auf ein mehr oder weniger systematisches Ausprobieren, auf eine offene Tätigkeit, bei der der Prozess des Experimentierens und nicht dessen Ergebnis im Vordergrund steht. Auf den ersten Blick haben diese beiden Definitionen nicht viel gemein. Und doch gibt es semantische Überschneidungen. So verwendete man von der Antike bis zur Renaissance den lateinischen Begriff ‚experimentum’ synonym mit lateinisch ‚experientia’: Beide Termini standen zu dieser Zeit noch in keinem Zusammenhang mit wissenschaftlichen Verfahren, sondern bezogen sich eher auf aus dem Handwerk gewonnene Erkenntnisse. Francis Bacon bezeichnet schließlich im Jahr 1620 ‚experimentum’ als die durch aktives Handeln herbeigeführte Erfahrung, er trifft eine klare Unterscheidung zur ‚rein zufälligen‘ Erfahrung, wenn er schreibt: „Restat experientia mera, quae, si occurat, casus, si quaesita sit, exoperimentum nominatur“ (Bacon 1620: I, 82). (*1)*3 *(3) Bacon erhebt damit – nicht umsonst gilt er als der Begründer des Empirismus – die Empirie zum Kriterium der Wissenschaftlichkeit.
Diese Definition des Experiments als ‚gesuchte‘ Erfahrung, im Gegensatz zur ‚zufälligen‘, impliziert meines Erachtens die Charakteristika, die sich für die vielfältigen Verwendungsweisen des Begriffs im Bereich von Kunst und Wissenschaft als allgemein gültig festmachen lassen. So verweist das Verb suchen auf Handlungsorientierung und Prozesshaftigkeit: Die/der Suchende begibt sich auf neues Terrain, sie/er forscht, (ver-)sucht, erfährt und entdeckt. Alles Tun vollzieht sich im Bewusstsein, auf der Suche zu sein, was kontinuierliche Dokumentation und Reflexion impliziert.
Ausgehend von dieser begrifflichen Auseinandersetzung ergeben sich weitere zentrale Leitideen für den Unterricht:
Experimenteller Unterricht erfordert ‚Experimentierkompetenz‘
In Anbetracht der unterschiedlichen Definitionen des Begriffs ‚Experiment’ erscheint es mir nützlich, dass sich Lernende auf theoretischer sowie praktischer Ebene mit dessen unterschiedlichen Formen und Verwendungsweisen auseinandersetzen und verschiedene Experimentierfelder kennenlernen (vgl. Langbehn 2001: 44). (*7)Es sollen ihnen Handlungsmöglichkeiten (auch Handlungskonventionen) innerhalb dieser ‚Felder‘ aufgezeigt werden, um darin – zunächst unter Anleitung – experimentierend tätig werden und ein eigenes Repertoire an Handlungsmöglichkeiten entwickeln zu können. Dass ‚Experimentierkompetenz‘ nötig ist, um Hemmschwellen abzubauen, Überforderung entgegenzuwirken und zu erreichen, dass sich die SchülerInnen auf Experimentierprozesse einlassen können, wird in der existierenden Fachliteratur mehrfach bestätigt (vgl. Brandstätter 2013: 34; (*4)Schwarzbauer 2014: 73–77; (*10)Wieneke 2016: 300–305 (*13)).
Katharina Anzengruber ( 2017): Schulische Experimentierräume im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft. Ein interdisziplinärer Ansatz zur Vermittlung experimenteller Musik im Unterricht der Sekundarstufe II: Pädagogische Leitideen und Einblicke in das Projekt KLANGKÖRPER – KÖRPERKLANG. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/schulische-experimentierraume-im-spannungsfeld-von-kunst-und-wissenschaft/