Schulische Experimentierräume im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft
Ein interdisziplinärer Ansatz zur Vermittlung experimenteller Musik im Unterricht der Sekundarstufe II: Pädagogische Leitideen und Einblicke in das Projekt KLANGKÖRPER – KÖRPERKLANG
Experimenteller Unterricht erfordert kontinuierliche Dokumentation und Reflexion
Die durchgehende Dokumentation und Reflexion der einzelnen Arbeitsschritte und (Zwischen-)resultate sind – unabhängig von der jeweiligen Verwendungsweise des Experimentierbegriffs – wesentlicher Teil von Experimentierprozessen. Darin unterscheidet sich das Experiment als ‚gesuchte‘ Erfahrung vom Versuch im Sinne eines ‚Ausprobierens ins Blaue hinein‘. Daher ist dieser Aspekt für die Konzeption von Unterricht, der das Experiment zum methodischen Prinzip macht, zentral (vgl. Langbehn 2001: 45). (*7)
Experimenteller Unterricht erfordert entsprechende Rahmenbedingungen
Qualitätsvoller Unterricht setzt wohl meist dem Gegenstand adäquate Rahmenbedingungen voraus. Dies trifft in besonderem Maße für experimentellen Unterricht zu, da Experimentierprozesse eine Lernumgebung erfordern, die sich vom herkömmlichen, stark reglementierten Schulbetrieb in der Regel unterscheidet. Es braucht meines Erachtens unbedingt Möglichkeiten, zeitliche und räumliche Strukturen aufbrechen zu können. Stehen zu wenig Zeit und Raum für die experimentelle Auseinandersetzung mit einer Theorie, Hypothese oder These zur Verfügung – indem beispielsweise an 50-minütigen Unterrichtseinheiten festgehalten werden muss oder sich die Räumlichkeiten auf ein enges Klassenzimmer beschränken – so können diese Konventionen Experimentierprozesse erheblich beeinträchtigen beziehungsweise ihr In-Gang-Kommen sogar verhindern. Zudem muss im Sinne einer adäquaten Lernumgebung das für den jeweiligen Untersuchungsgegenstand erforderliche Equipment vorhanden sein und es sollte die Option gegeben sein, bei Bedarf externes Personal in den Unterricht einzubinden, das die SchülerInnen unterstützt und Impulse liefert (vgl. Langbehn 2001: 41–47; (*7) Schwarzbauer 2014: S. 94–99; (*10) Wieneke 2016: 291–300 (*13)).
Das Spektrum an pädagogischen Konsequenzen erweitert sich noch, bezieht man neuerlich den konkreten ‚Vermittlungsgegenstand‘ – nämlich experimentelle Musik – in die Überlegungen ein.
Die Vermittlung experimenteller Musik erfordert beides: sowohl Eingrenzung und Öffnung als auch Lenkung und Freiheit
Neben den allgemeingültigen Charakteristika, die die verschiedenen Verwendungsweisen des Experiments prägen, weist experimentelle Musik (ebenso wie experimentelle Kunst anderer Sparten oder naturwissenschaftliche Experimente) spezifische Merkmale auf, die für den jeweiligen Kontext, in dem sie verwendet werden charakteristisch, aber nicht einheitlich definierbar sind. Diese können meines Erachtens nur ausgehend von konkreten Beispielen festgemacht werden. Für die Unterrichtspraxis ergibt sich aus der Unmöglichkeit der einheitlichen Definition die Notwendigkeit einer vorläufigen Eingrenzung des ‚Vermittlungsgegenstands‘: die Konzentration auf eine Auswahl von repräsentativen Beispielen, um daraus Merkmale experimenteller Musik abzuleiten. In diesem Zusammenhang erscheint es mir wichtig, sich als Lehrperson der Problematik dieser an Einzelphänomenen orientierten Selektion und Reduktion bewusst zu sein und sie auf die Phase der ersten ‚Begegnungen‘ mit experimenteller Musik und Kunst anderer Sparten zu beschränken, um die Lernenden Schritt für Schritt an ein Genre heranzuführen, das ihnen in der Regel zunächst fremd ist. Andernfalls besteht die Gefahr zu suggerieren, es gäbe nur ein auf spezifische Merkmale eingegrenztes Repertoire an möglichen Experimentierhandlungen, auf das sich eine eigene Experimentiertätigkeit beschränken müsse. Eine qualitätsvolle Vermittlung experimenteller Musik intendiert jedoch das genaue Gegenteil: Es sollen Experimentierräume geöffnet werden, in denen zunächst ‚alles möglich‘ ist – innerhalb derer sich die Lernenden frei ‚bewegen‘ und ihre Theorien, Hypothesen, Thesen und persönlichen Vorstellungen erproben, weiterentwickeln oder gegebenenfalls verwerfen können. Gleichzeitig soll einem völligen Abgleiten in die Beliebigkeit im Sinne eines planlosen ‚Ausprobierens‘ entgegengewirkt werden, geht es doch darum, eine gewisse – experimentelle Musik charakterisierende – Ästhetik zu vermitteln. Für die Lehrperson bedeutet dies, ihre Rolle den Bedürfnissen der Lernenden entsprechend flexibel zu gestalten und eine Balance zwischen Lenkung des Unterrichtsgeschehens und Gewährung von Freiheiten zu finden. (vgl. Langbehn 2001: 41–47; (*7) Schwarzbauer 2014: S. 64–100; (*10) Handschick 2014: 297–302; (*6) Wieneke 2016: 300–305 (*13)).
Nun handelt es sich bei diesen pädagogischen Leitideen keineswegs ausschließlich um neue Überlegungen. So werden viele Aspekte – wenngleich teilweise anders systematisiert – auch in der Fachliteratur angeführt (auf eine Auswahl an Texten zu dieser Thematik verweise ich jeweils in Klammer). Inwiefern diese jedoch für eine ‚sinnvolle‘ Vermittlung experimenteller Musik konstitutiv sind beziehungsweise welche weiteren Faktoren in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen (können), darüber soll eine empirische Untersuchung Aufschluss geben. Zu diesem Zweck wurde das Projekt KLANGKÖRPER – KÖRPERKLANG entwickelt und dabei im Besonderen darauf geachtet, die in diesem Abschnitt explizierten Leitideen im Zuge der Konzeption zu berücksichtigen.
Katharina Anzengruber ( 2017): Schulische Experimentierräume im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft. Ein interdisziplinärer Ansatz zur Vermittlung experimenteller Musik im Unterricht der Sekundarstufe II: Pädagogische Leitideen und Einblicke in das Projekt KLANGKÖRPER – KÖRPERKLANG. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/schulische-experimentierraume-im-spannungsfeld-von-kunst-und-wissenschaft/