Vorgegebene Erfahrungsangebote
Wie jedoch funktioniert die Gestaltung von Erfahrung? Welche Fährten legt eine KünstlerIn in eine Arbeit, um den RezipientInnen eine bestimmte „Lesart“ nahe zu legen? Bätschmann zählt Mittel und Maßnahmen von künstlerischen Aktivitätsangeboten auf, die das Publikum temporär steuern sollen, wie Isolation, Initiationsritus, Sinneswahrnehmungen ekeligster oder angenehmster Art, Klaustrophobie, Verwirrung des Orientierungssinns, Aussetzung in scheinbare Gefahren oder Gesprächsangebote. (Vgl. Bätschmann 1997: 243) (* 2 )
Ein Beispiel für solch ein Erfahrungsangebot ist das Werk Run Motherfucker Run des niederländischen Künstlers Marnix de Nijs, aus dem Jahr 2005. (* 12 ) Darin geht es um die Kontrolle der RezipientInnen durch den Künstler sowie die Kontrolle der RezipientInnen über das Werk. Run Motherfucker Run verbindet ein Videospiel mit einer interaktiven Installation. Auf einer acht mal vier Meter großen Wandprojektion wird das Videospiel gezeigt. Es gilt sich aus einer Ego-Shooter-Perspektive heraus durch ein unheimliches Vorstadtszenario in der Dämmerung zu bewegen. Eine BesucherIn kann das Videospiel spielen, in dem sie oder er sich auf einem fünf mal zwei Meter großen Laufband bewegt, welches vor der Projektion aufgebaut ist. Durch Rennen auf dem Laufband wird die Spielfigur im Video in Bewegung gesetzt. Die Distanz, die auf dem Laufband zurückgelegt wird, ist dieselbe Distanz, die sich die Spielfigur durch die Stadt bewegt. Die Richtung auf dem Laufband gibt die Richtung im Spiel vor. Soweit erinnert das Kunstwerk an interaktive Spielkonsolen. Der Künstler hat jedoch Erschwernisse eingebaut, die die Kunsterfahrung dieses Werkes ins Extreme treiben. In der Ausgangssituation ist das projizierte Bild trüb. Je schneller die Spielerin oder der Spieler rennt, desto klarer wird das Bild und schließlich leichter das Videospiel zu navigieren. Wenn er/sie jedoch schnell rennt, dann ändert sich zufällig und unvorhersehbar der Steigungsgrad des Laufbandes. Das Rennen wird mühsam. Und nicht nur das, je schneller der/die AgonistIn sich auf dem Laufband und somit auch im Videospiel fortbewegt, desto unheimlicher wird das Szenario im Spiel. Er/sie wird noch schneller, da er/sie die Spielsituation verlassen möchte und löst dadurch sich noch schneller ändernde Einstellungen auf dem Laufband aus.
De Nijs bindet in Run Motherfucker Run die RezipientInnen nicht nur an das Werk, indem er sie zu Spielern eines Videospiels macht. Durch das Setting der Installation gibt er auch die Bewegungsrichtung und Art der Bewegung auf dem Laufband, die Blickrichtung auf die Projektion und die Verweildauer vor. In diesem Werk funktioniert Erfahrungsgestaltung über das Angebot einer extremen ästhetischen Erfahrung. Die RezipientIn sieht die Videoprojektion, hat haptischen Kontakt zum Laufband und wird auch noch in ihrem Gleichgewichtssinn herausgefordert.
Jedoch sind in diesem Fall die RezipientInnen in der Gestaltung der Erfahrung durch das strikt vorgegebene Setting des Künstlers eingeschränkt in ihrem eigenen Handeln. Sie können sich ihre Wahrnehmungsbedingungen nicht selbst gestalten. Die Erfahrungs- und Raumbedingungen werden in diesem Fall vom Künstler vorgegeben.
Dorothée King ( 2013): Sensorimotor Contingencies. Kunstvermittlung und Gestaltung ästhetischer Erfahrung. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/sensorimotor-contingencies/