Sensorimotor Contingencies

Kunstvermittlung und Gestaltung ästhetischer Erfahrung

KünstlerInnen durchbrechen Erfahrungserwartungen

Die Künstlerin Lili Fischer hat schon in den 1990er Jahren vorgemacht, wie KünstlerInnen als ErfahrungsgestalterInnen von Rezeptionsprozessen fungieren können. Als Beispiel dazu möchte ich kurz ihr Werk Meute im Museum aus dem Jahr 1996 vorstellen. Für dieses Werk der künstlerischen Kunstvermittlung eignet sich die Künstlerin den Ausstellungsraum an und bietet den rezipierenden Kindern neue Museumserfahrungen an. Im Kindermuseum des Lehmbruck Museums in Duisburg haben Kinder die Möglichkeit, sich als Ratten zu verkleiden. Fischer fordert die Kinder per Performance und Textanweisungen dazu auf, auf allen Vieren durch die gesamte Ausstellung des Museums zu kriechen, Kunst zu beschnuppern und zu betasten. Die Museumsratten widersetzen sich allen Regeln des Museumsraums und befassten sich mit allen Sinnen mit bildender Kunst. (Vgl. Brenne 2004: 110f.)star (* 4 ) Die Performance im Museum zeigt auf erfrischende Weise andere Verhaltensformen im Museum als Raum der Kunst auf. Durch die Rolle der Ratten fallen sonst gültige Regeln, wie man sich im Museum zu verhalten hat, weg. Die Kinder finden zu unvoreingenommenen ästhetischen Erfahrungen. Die Künstlerin fungiert als Erfahrungsgestalterin, beschränkt sich jedoch nicht auf ein Werk, sondern schließt die Vermittlung und die Aneignung des Museumsraumes, durch sie als Künstlerin und durch die rezipierenden Kinder, in ihre Performance mit ein.

Sensorimotor Contingencies – Rezeption als Wahrnehmungsgestaltung

Für einige Werke des bildenden Künstlers John Bock, der inzwischen auch als Künstler-Kurator in Erscheinung tritt, scheinen die Beobachtungen Noës zu Wahrnehmungsprozessen und sensorimotor contigencies relevant. Die hier gleich vorgestellten Werke führen die BetrachterInnen nicht nur dazu, das Werk durch Veränderung ihrer Position und somit ihrer Sinne und somit ihrer Wahrnehmungsbedingungen zu rezipieren. Bock scheint durch die Schaffung von Situationen, in denen sich bewegt, geguckt, sich gewundert, gebückt werden kann, einen Dialog mit den RezipientInnen herauszufordern, der wie Ping-Pong-Spiel zwischen Erfahrungsangebot und eigenmächtigen Bewegungsabläufen und somit Wahrnehmungsgestaltungen der Rezipintinnen zu verstehen ist, und alles, was wir bislang über den White Cube Museumsraum gelernt haben, in Frage stellt.*1 *( 1 )

Bock installiert 2011 in der Galerie Klosterfelde Berlin die Ohr-Walachei*2 *( 2 ). Man sieht bei der Ohr-Walachei erst einmal nur einen leeren Raum. Den Galerieräumen wurde nichts hinzugefügt. Der Raum ist leer. Doch scheinen sich einzelne architektonische Elemente, wie Türgriffe, Türen, Fensterflügel und auch eine Leiste am Fußboden von selbst zu bewegen. Dabei produzieren diese Elemente teils harmonische, teils auch ganz irritierende Geräusche. Als interaktionserprobte Besucherin probiere ich natürlich sofort aus, ob ich die Auslösende bin für die Bewegungen des Interieurs und die Geräusche. Ich mache mich also klein, dann wieder groß, gehe näher, einen Schritt zurück, und erschaffe mir dadurch einen ganz eigenen Klangraum, bis ich merke, dass ich den Sound nicht beeinflussen kann. Und dennoch: Durch die Änderung meiner sensorimotor contingencies erfahre ich ganz unterschiedliche Aspekte des Kunstwerks und des Raumes. Die Veränderung der Position meiner Sinnesorgane führt zu ganz unterschiedlichen Wahrnehmungen, Lautstärken und Ansichten des Kunstwerks. Erst durch die Änderung meiner Wahrnehmungsbedingungen werde ich auf die einzelnen Elemente, wie sich bewegende Balken und Türgriffe, aufmerksam und kann bewusst meine Wahrnehmung des Werkes steuern.

Bock tritt hier nicht nur als Erfahrungsgestalter auf, sondern lädt die BetrachterInnen ein, sich selbst ihre eigenen Wahrnehmungsbedingungen zu schaffen.

Ganz im Gegensatz dazu mutet Bocks kurz zuvor präsentiertes visuell überbordendes Ausstellungswerk FischGrätenMelkStand (Temporäre Kunsthalle Berlin, 2011) an. Bock macht sich als Kurator nicht nur den Ausstellungsraum zu eigen, sondern installiert Kunstwerke in einem komplexen Erfahrungsraum, der die RezipientInnen einlädt, sich eigenmächtig, durch sich stetig verändernde Positionen im Raum, ihre ganz eigene ästhetische Erfahrung zu schaffen. Bock setzt alle vorangestellten Erwartungen von KünstlerInnen und AusstellungsbesucherInnen an den White Cube Museum außer Kraft. Die Temporäre Kunsthalle Berlin wird zur Riesenbaustelle und zum Abenteuerspielplatz. Durch chaotisch wirkende verschraubte Gerüste, Hängebrücken, Kastenwägen, durch Ausstellungsarchitektur, die aus Orientteppichen und alten Reifen zusammengestellt ist, bahnen und erklettern sich die BesucherInnen den Weg zu einzelnen Arbeiten, die nicht sonderlich geschützt oder als solche überhaupt erkennbar, zwischen all dem Stacheldraht, Wellblech, alten Zeitungen, ausrangierten Interieurs und Streifentapeten zu finden sind. Die Ausstellung fragt nach ganzem Körpereinsatz. Es gibt keine vorgegebenen Wege, sich die Werke einer Reihe nach an zu sehen, es gibt keine Unterscheidung zwischen Werk und Ausstellungsarchitektur. Die RezipientInnen sind körperlich gefordert und mit allen Sinnen im Einsatz bei einer sich ständig neuen Wahrnehmungssituation bei der Betrachtung der Werke. Die Selbstermächtigung der RezipientInnen durch sich verändernde sensorimotor contingenices scheint hier gegeben.

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Bätschmann, Oskar (1996): Der Künstler als Erfahrungsgestalter. In: Stöhr, Jürgen  (Hg.): Ästhetische Erfahrung heute. Köln: DuMont, S.248-281.

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Bätschmann, Oskar (1997): Ausstellungskünstler: Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln: DuMont.

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Böhme, Gernot (1998): Anmutungen: Über das Atmosphärische. Ostfildern: Tertium.

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Brenne, Andreas (2004): Ressource Kunst – „Künstlerische Feldforschung“ in der Primarstufe – Qualitative Erforschung eines kunstpädagogischen Modells. Münster: Monsenstein und Vannerdat.

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Bürger, Christa (1983): Philosophische Ästhetik und Popularästhetik. In: Bürger, Peter (Hg.): Zum Funktionswandel der Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.107-126.

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Kemp, Wolfgang (1985): Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. In: Kemp, Wolfgang (Hg.): Der Betrachter
ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Köln: DuMont Verlag, S.7-27.

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Noë, Alva (2002): Art as Enaction, online unter: http://www.interdisciplines.org/artcog/papers/8, abgerufen am 28.11.2011.

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Noë, Alva (2004): Action in Perception. Cambridge, MA.: The MIT Press.

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Mörsch, Carmen (2009): Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen: Die documenta 12 Vermittlung zwischen  Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation. In: Mörsch, Carmen/Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): Kunstvermittlung II. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojektes. Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 9-33.

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Mörsch, Carmen (2010): Der Museumsbesucher als Erfahrungsgestalter. In: Gludovatz, Karin/Lüthy, Michael/ Schieder, Bernhard/von Hantelmann, Dorothea (Hg.): Kunsthandeln. Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 59-72.

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Shearman, John K. G. (1992): ‪Only Connect: ‪Art and the Spectator in the Italian Renaissance. Princeton: Princeton University Press.

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de Nijs, Marnix (o.J.): Run Motherfucker Run. http://www.marnixdenijs.nl/run-motherfucker-run.htm
und http://vimeo.com/44718902 aufgerufen am 21.6.2013

„Ich habe angefangen mit theoretischen, mathematischen Vorträgen und ich wollte gar nicht aktionistisch sein. Da rutscht man dann so rein, baut ein Kostüm, baut ein Objekt und dann sagt man sich: ja die weiße Wand reicht nicht mehr – also baut man sich ein Bühnenbild, dann eine Bühne – und so läppert sich das.“ John Bock auf http://www.culturebase.net/artist.php?4115, aufgerufen am 20.6.2013.

Bock, John (2011): Ohr-Walachei. Installation, Bewegungsmotoren an Fenstern, Türen, Fußleiste. Maße variabel.

Dorothée King ( 2013): Sensorimotor Contingencies. Kunstvermittlung und Gestaltung ästhetischer Erfahrung. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/sensorimotor-contingencies/