„… so’n bisschen United Colors of Benetton“

Sarah Schilliger ist Soziologin und Mitarbeiterin am Soziologischen Seminar der Universität Basel. Sie publiziert regelmäßig zum Thema „Care-Migration“, ist in der außerparlamentarischen Linken aktiv, u.a. in der Bleiberechtbewegung Schweiz, und hat beim Aufbau der Autonomen Schule Zürich mitgewirkt.

Inwiefern ist der Einsatz künstlerischer Mittel in Bezug auf die Problematik der irregulären Migration relevant?

Ich sehe in der Kunst eine Möglichkeit, politische Fragen auf eine andere Weise zu problematisieren und zu artikulieren. Als jemand, der zu sehr in dogmatischen, marxistischen Politgrüppchen sozialisiert wurde, habe ich genug von diesem oft einseitigen Zugang: ein Manifest verfassen, irgendwelche verbrauchte Parolen zum hundertsten Mal runterleiern, tausend Flugblätter verteilen. Oft stelle ich hingegen fest, dass ein Kunstprojekt in der Lage ist, einen ganz anderen Zugriff auf die gleichen Problematiken zu schaffen, den ich produktiv und für die politische Bewegung sehr inspirierend finde.

In der Kunst scheint mir das Thema irreguläre Migration in den letzten Jahren tatsächlich zunehmend Konjunktur zu haben. Und da liegt die Frage nahe, was die Beteiligung an solchen Projekten mit den Leuten macht. Kann das Projekt für sie Perspektiven aufzeigen? Kann es einen Selbstermächtigungsprozess anstoßen? Eine Künstlerin, die den Anspruch hat, politische Kunst zu Migration und Rassismus zu machen, sieht sich wohl mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie eine Forscherin, die engagierte Wissenschaft zu diesen Themen betreiben will.

Wenn ich ein Forschungsprojekt mache, dann möchte ich nicht einfach nur Interviews mit MigrantInnen führen, um anschließend nach Hause zu gehen, es niederzuschreiben und sie zu meinem Forschungsobjekt zu machen. Das wäre ein rein instrumentelles Verhältnis. Es ist ein hoher Anspruch, aber als Forscherin möchte ich im Feld, in dem ich agiere, auch etwas bewegen und nicht bloß meine „Daten“ sammeln, um dann einen wissenschaftlichen Artikel daraus zu verfassen und mich in der „scientific community“ damit zu profilieren. Es geht in erster Linie um die persönliche Haltung. Wie nimmt man die Leute wahr, denkt man sich in die Köpfe anderer ein, hat man ein wirkliches Interesse für ihre Lebensrealitäten? Das hat wohl mit einem politisierten Blick auf die Welt zu tun. Damit meine ich, dass ich Realitäten nicht einfach nur wahrnehme, sondern den Anspruch habe, die Probleme der anderen zu den eigenen zu machen – und auf kollektive Veränderung hinzuwirken. Insofern ist nicht in erster Linie das „Produkt“ – sei es eine Ausstellung, ein Theaterstück, eine wissenschaftliche Publikation – zentral, sondern der Prozess, der dorthin führt. Und die kollektive Erfahrungen, die die Beteiligten dabei machen und die vielleicht ansatzweise emanzipatorisch wirken können.

Inwieweit schaffst du es, dem hierarchischen Verhältnis, das in deiner Rolle als Forscherin angelegt ist, entgehen zu können?

Es ist äußerst schwierig, diese Zweiteilung zu lösen. Auch in der Bleiberechts-Bewegung oder an der Autonomen Schule geht es immer wieder darum: „Wir“ sind die privilegierten SchweizerInnen, die im Gegensatz zu den Sans-Papiers die Sprache der Mehrheitsgesellschaft sprechen und einen regulären Aufenthaltsstatus haben. Das wird niemals ganz aufgebrochen, nicht mal in der Autonomen Schule, wo ja explizit versucht wird, nicht Wissensvermittlung, sondern Wissenstransfer zu betreiben. Ein erster notwendiger Schritt für eine gemeinsame politische Praxis ist jener, sich selbst dieser Hierarchien bewusst zu werden und sie nicht zu verwischen. Dazu bedarf es einer ständigen kritischen Selbstanalyse und auch einer gemeinsamen Reflexion über gesellschaftliche Machtverhältnisse. Geschieht dies nicht, verfällt man schnell in eine paternalistische Haltung – eine Tendenz, die ich auch in der linken Szene häufig antreffe. Und die teilweise in Kunstprojekten zum Ausdruck kommt, wenn MigrantInnen zum Beispiel als passive Opfer dargestellt werden. Diese Viktimisierung verschärft Hierarchien zusätzlich und macht Subalterne tatsächlich sprachlos. Die postkoloniale Theoretikerin Gayatri C. Spivak hat in ihrer Schrift Can the Subaltern Speak verdeutlicht, dass marginalisierte Subjekte angesichts des übermächtigen Herrschaftssystems keine eigene Stimme haben, weil sie entweder paternalistisch interpretiert oder gar nicht erst erhört werden. Die sogenannten „Betroffenen“ selbst sprechen zu lassen oder sie in Kunstprojekte zu „integrieren“, bedeutet keineswegs, sie auch wirklich zu Wort kommen zu lassen. Denn nicht das, was sie sagen, ist entscheidend, sondern das, was gehört wird. Und ich muss gestehen, dass ich da selbst auch immer wieder skeptisch bin, nicht nur in Hinblick auf künstlerische Produktionen zu dieser Problematik, die ich mitbekomme, sondern auch in Bezug auf die politische Arbeit, die wir machen.

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AntiKulti-Ateliergruppe (2012): Flüchtlinge als Stoff für Kunstprojekte. Ein Gespräch der Antikulti Ateliergruppe. In: Papierlose Zeitung, Heft 4, S.4-5. Online unter www.papierlosezeitung.ch/wp-content/uploads/Papierlose-Zeitung-4-2012.pdf  (31.01.2013).

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Autonome Schule Zürich (ASZ). Online unter www.schuel.ch/index.php/ASZ_Hohlstrasse.html (31.01.2013).

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Aux Arts Etc… (2012): Tag der Verortung. Online unter www.auxartsetc.ch/agenda_detail.php?id=8569 (31.01.2013).

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bblackboxx. Online unter www.bblackboxx.ch (31.01.2013).

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Bleiberecht-Kollektiv. Online unter www.bleiberecht.ch (31.01.2013).

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Büro Haeberli. Online unter www.buerohaeberli.ch (31.01.2013).

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Freudiger, Corina (2012): Abstraktes Afrika. Sandra Strunz zeigt ein angenehm ethnokitschfreies Stück über afrikanische Migranten. In: Züritipp vom 8.03.2012. Online unter www.zueritipp.ch/buehne/buehne/Abstraktes-Afrika/story/21714622/ (31.01.2013).

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Karakayali, Jule/Tsianos, Vassilis S./Karakayali, Serhat/Ibrahim, Aida (2012): Decolorise it! In: ak – analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 575, S.11-13. Online unter www.akweb.de/ak_s/ak575/23.htm (31.01.2013).

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Kritnet (Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung). Online unter www.kritnet.org (31.01.2013).

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Kunstkredit Basel Stadt. Online unter www.kunstkreditbasel.ch (31.01.2013).

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Papierlose Zeitung. Online unter www.papierlosezeitung.ch (31.01.2013).

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Spivak, Gayatri Chakravorty (2007): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant.

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Theaterprojekt WG Babylon. Eine Performance sucht Asyl (2010). Online unter: www.zhdk.ch/?projektarchiv&id=803; (31.01.2013).

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Verein Kunst+Politik. Online unter www.kunst-und-politik.ch (31.01.2013).

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Wikipedia (2013): Neuorientierung 2010/2011. Online unter de.wikipedia.org/wiki/Basler_Zeitung#Neuorientierung_2010.2F2011 (31.01.2013).

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Zulauf, Tim. Online unter www.zulauf.it (31.01.2013).

Der Titel stammt aus dem Interview mit Almut Rembges am 24.09.2012 in Basel. Der vorliegende Text basiert auf Auszügen aus zwischen August und Dezember 2012 durchgeführten Interviews.

Autonome Schule Zürich (ASZ) und der Verein Bildung für Alle (BfA), sind ein selbstverwaltetes Bildungsprojekt, das ein vielfältiges Bildungs- und Kulturangebot für alle − sowohl für illegalisierte Flüchtlinge und sozial Marginalisierte als auch alle anderen interessierten und engagierten Menschen bietet. Kernteil des Kursangebotes bilden Deutschkurse für verschiedene Kenntnisstufen. (vgl. Autonome Schule Zürich 2013).

Bleiberecht-Kollektiv ist eine politische Bewegung, in der Sans-Papiers und Solidarische mit eigenen Mitteln für ihre Rechte und Autonomie kämpfen. Es  setzt sich für Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle ein und fordert u.a. eine kollektive Legalisierung aller Sans-Papiers, die Aufhebung des Nothilfe-Regimes sowie die sofortige Umsetzung des Härtefallartikels. Die Bleiberechtbewegung setzt sich momentan aus Kollektiven in Zürich, Basel, Bern, Fribourg und Lausanne zusammen. (vgl. Bleiberecht-Kollektiv 2013).

AntiKulti-Ateliergruppe trifft sich seit Februar 2010 wöchentlich in autonomen Räumen Zürichs, um mit künstlerischen Mitteln antirassistische Projekte zu entwickeln und umzusetzen (vgl. AntiKulti-Ateliergruppe 2013).

Der Kunstraum bblackboxx wurde von Almut Rembges ins Leben gerufen und bezieht seit rund sechs Jahren Position an der Stadtgrenze von Basel (vgl. bblackboxx 2013).

Im Sommer 2010 erhielt die bblackboxx einen Beitrag der Kulturabteilung des Kantons Basel Stadt für die Umsetzung einer künstlerisch-theoretischen Aktionsreihe (vgl. Kunstkredit Basel-Stadt 2013).

Kritische Whiteness-Forschung (Critical Whiteness Studies), die sich in den 1980er Jahren in der USA entwickelte, thematisiert den Ursprung des Rassismus anhand bestehender sozialer Konstruktionen, bei denen u.a. die verinnerlichte Norm des Weißseins als rassifizierende Perspektive auf das „Andere“ reflektiert wird.

Marina Belobrovaja ( 2013): „… so’n bisschen United Colors of Benetton“. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/son-bisschen-united-colors-of-benetton/