The Whole World in Zurich / Die ganze Welt in Zürich

Kollaborative und transformative Strategien der Verhandlung von „StadtbürgerInnenschaft“.

Den Eisberg zum Schmelzen bringen – Zürich als Hafenstadt

Zurück nach Zürich: Mitte der 90er Jahre machte die Shedhalle einen kuratorischen Turn hin zum „Politischen“. Das Programm wurde für unkonventionellere Formen der Kunst und deren Vermittlung geöffnet und die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen AkteurInnen gestärkt. Der Fokus meiner kuratorischen Arbeit in der Shedhalle seit 2012 liegt auf einer Re-Aktualisierung dieser Praxis der transdisziplinären Kollaboration sowie auf der gleichzeitigen persönlichen Involvierung in die politischen Praxen (lokaler) sozialer Kämpfe. Oliver Marchart beschreibt dies als „immersing oneself into the muddy waters of social struggles“, als „sich in die unsauberen Gewässer sozialer Kämpfe begeben“ (Marchart 2014).star (*6) Eine These meiner kuratorischen Arbeit besteht in der intensiven Nutzung der Erfahrungen aus dieser langjährigen politischen Arbeit in künstlerischen, kollaborativen Projekten sowie die freiwillige Verstrickung in deren Logiken. So beschreibt auch Nora Sternfeld den Begriff des „Involvierten Kuratierens“: „So lässt sich die ständige Involviertheit von KuratorInnen, also nicht nur von der Seite ihrer Verstrickungen verstehen, sondern auch von seiner anderen Seite: Der bewussten und permanenten solidarischen Involvierung in öffentliche Debatten und soziale Kämpfe.“ (Sternfeld 2013)star (*10) Künstlerische Projekte können „Pre-Enactments“ neuer Formierungen transformativer Praxis generieren, so eine weitere These meiner kuratorischen Arbeit. Den Begriff Pre-Enactment benutzt Oliver Marchart in Bezug auf die Arbeit des israelischen Kollektivs „Public Movement“ und beschreibt das Pre-Enactment als künstlerische Antizipation eines politischen Ereignisses (Marchart 2014).star (*6) Dabei seien Fragen der Probe, des Trainings, der Übung und der Prefiguration der Zukunft relevant. Marchart schreibt: „Während das, was ‚die Zukunft‘ genannt wurde, vom neoliberalen Austeritätsregime zerstört und abgeschafft zu sein scheint, könnte es doch noch unter uns sein, in Form von Pre-Enactments.“ (Marchart 2014, Übersetzung der Autorin).star (*6) Eine Aktualisierung (wenn auch kein Re-Enactment) eines tatsächlich stattgefundenen Ereignisses wurde eine der Quellen des entstehenden Projekts „Die ganze Welt in Zürich“: Wir bezogen uns auf das 1994 in der Shedhalle durchgeführte Projekt „8 Wochenklausur“. Das KünstlerInnenkollektiv „Wochenklausur“ (Wien) nahm damals als Teil des bereits beschriebenen „political turns“ der Shedhalle eine acht Wochen dauernde Intervention in die Zürcher Drogenpolitik vor und veranstaltete Bootsfahrten mit ExpertInnen und EntscheidungsträgerInnen, um die festgefahrene politische Situation zu lösen und neue Möglichkeiten auszuloten. Ziel war die Schaffung eines Raums für drogenbenutzende SexarbeiterInnen in Zürich.

Um mit der Schmelze des Eisbergs zu beginnen, lud ich den Künstler Martin Krenn ein, gemeinsam ein Projekt zu entwickeln. Krenn hat sich sowohl in seiner künstlerischen Praxis als auch in seiner theoretischen Arbeit intensiv mit dialogischen Formaten auseinandergesetzt. Die erste Entscheidung lag darin, das Projekt und seine Methoden in der Tradition sozial engagierter Kunst zu verorten (Kester 2015).star (*4) Als Zielsetzung des Projekts definierten wir, mit den Mitteln der Kunst die politische Machbarkeit konkreter Vorschläge einer StadtbürgerInnenschaft (Urban Citzenship) für Zürich auszuloten und diese Vorschläge auf ihre Umsetzbarkeit in Zürich zu überprüfen. Anschließend sollten diese Vorschläge als konkrete politische Schritte für eine Ausweitung politischer, sozialer und kultureller Teilhabe in der Stadt öffentlich vorgeschlagen werden. Das Projekt „Die ganze Welt in Zürich“ sollte zudem einen Ort schaffen, an dem über Sachzwänge hinaus, im Sinne einer sozialen Utopie gemeinsam nachgedacht, verhandelt und politisch agiert werden konnte. Ein künstlerisch angelegtes Projekt sollte also als Intervention in die politischen Verhältnisse und Normalitäten wirksam werden. Zürich sollte ein Stück weit zum „sicheren Hafen“ werden: für alle die in dieser Stadt leben und für alle, die noch dorthin kommen.

Zu Beginn unseres Projekts stellten sich uns folgende Fragen: Wie kann ein „Recht auf Rechte“, eine Demokratisierung der Demokratie und ein Recht auf Stadt in einer Stadt wie Zürich umgesetzt werden? Welche konkreten Interventionen in die Schweizer Migrationspolitik braucht es dazu? (Wie) lassen sich – nicht zuletzt – mittels künstlerischer Praxis neue Möglichkeitsräume für eine Demokratisierung der Gesellschaft öffnen? Lassen sich dabei Wege aus der „migrationspolitischen Sackgasse“ (Espahangizi 2015)star (*1) finden, und neue Wege einschlagen, die einer postmigrantischen Gesellschaft (Foroutan 2014)star (*2) entsprechen? Welche Widersprüche ergeben sich aus dem Eigensinn demokratischer Prozesse einerseits und einem institutionell verankerten Kunstprojekt andererseits und wie lassen sich diese Widersprüche im Projekt adressieren? Kann sich ein Projekt, dessen Methodik der dialogischen Ästhetik im (lokalen) Kunstfeld wenig Rückhalt genießt, als „best practice“ positionieren? Und wirkt eine derart politisierte Form der Beteiligung, als geteiltes Interesse aller Beteiligten, nicht zu konzertiert, nicht längst überholt von einem allseits akzeptierten Partizipationsparadigma und dessen breit (und zu Recht) kritisierten Fallstricken?

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Espahangizi, Kijan (2015): Stimm- und Wahlrecht für Ausländer? Nein, danke!, WOZ – Die Wochenzeitung, Nr. 26/2015 vom 25.06.2015

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Foroutan, Naika et al.: Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität. Erste Ergebnisse. Forschungsprojekt „Junge Islambezogene Themen in Deutschland (JUNITED) am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humbold-Universität zu Berlin, Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät, Berlin 2014

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García, Marisol (2006), Citizenship Practices and Urban Governance in European Cities, Urban Studies, 43 (4): 745–765.

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Kester, Grant (2015): On the Relationship between Theory and Practice in Socially Engaged Art, Fertile Ground, Juli 2015

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Lebuhn, Henrik (2015): Urban Citizenship and the Right to the City: The Fragmentation of Claims, in: International Journal for Urban and Regional Research (Symposium), 39.4, mit Talja Blokland, Christine Hentschel, Andrej Holm & Talia Margalit

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Marchart, Oliver (2014): The Art of Preenactments, Lecture am 9. Juli 2014 am HZT – Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin, Link: https://vimeo.com/114242197, abgerufen am 15. Mai 2016

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Morawek, Katharina (2015): Städte statt Staaten, WOZ – Die Wochenzeitung, Nr. 28/2015 vom 09.07.2015

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Rodatz, Mathias (2014): Migration ist in dieser Stadt eine Tatsache. Urban politics of citizenship in der neoliberalen Stadt. In: suburban 2(3), 35-58.

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Morawek, Katharina (2016): #urbancitizenship. Stadt und Demokratie, in: Shedhalle 2016 (Ausstellungsbroschüre)

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Sternfeld, Nora (2013): Involvierungen. Das post-repräsentative Museum zwischen Verstrickung und Solidarität, Beitrag auf der Website des Bielefelder Kunstvereins, http://www.bielefelder-kunstverein.de/ausstellungen/2013/museum-off-museum-blog/nora-sternfeld.html#.VzuTpFeh6Rs, abgerufen am 15. Mai 2016

Katharina Morawek ( 2016): The Whole World in Zurich / Die ganze Welt in Zürich. Kollaborative und transformative Strategien der Verhandlung von „StadtbürgerInnenschaft“.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/the-whole-world-in-zurich-die-ganze-welt-in-zurich/