„Um sich bestimmten Themen anzunähern, brauche ich auch die geführte Freiheit.“

Ellen Roters im Interview über anti-diskriminatorische Kulturvermittlung mit Jugendlichen.

Wie funktioniert eine anti-diskriminatorische Vermittlung mit Jugendlichen?

Mich interessiert, wie ihr die Adressat*innen in die Aufbereitung der Ausstellung einbezieht. Wie entscheidet ihr euch für die Personen und Facetten, die in den Räumen der Villa Global vorkommen?

Wir haben viele Projekte mit den Kindern aus diesem Quartier gemacht. Zum Beispiel hatten wir das Thema Geschichten in den Familien. Viele haben dann zum ersten Mal mit ihren Eltern darüber geredet, was eigentlich die Geschichten der Eltern und Großeltern sind. Wir haben dann kleine Ausstellungen mit den Objekten gemacht, die die Kinder aus ihren Familien oder ihrem Umkreis mitgebracht haben. Wir haben Rechercheprojekte gemacht, wo die Kinder einfach auf der Straße rumgelaufen sind und geguckt haben, woran man eigentlich im Stadtbild sieht, dass hier Menschen zusammenleben, die unterschiedliche Backgrounds haben. Diese Recherchen zeigen uns auch, was die Kinder und Jugendlichen eigentlich interessiert, was sie spannend finden und welche Geschichten sie ganz konkret mitbringen. So kriegen wir zum Beispiel mit, dass es einen zunehmenden Antisemitismus gibt in diesem Quartier. Mit der Ausstellung reagieren wir darauf. Es gibt auch einen Raum von einem schwulen Mann, dessen Eltern aus der Türkei kommen und der einen muslimischen Background hat. Wir haben in der alten Villa Global erlebt, dass vor allem muslimische Jungs dann sagen, dass es so etwas bei ihnen nicht gibt. Da sagen wir: „Gut, ihr habt die Haltung, dass es das bei euch nicht gibt, aber die Person gibt es ja jetzt.“ Also müssen wir uns damit auseinandersetzen. Was heißt es eigentlich, dass es das nicht gibt, wenn ihr jetzt im Zimmer von jemandem seid, den es ja gibt und der ganz klar sagt, das ist nicht Lifestyle, dass ich schwul bin. Er sagt, er wäre ja irre, in bestimmten Ländern gibt es darauf die Todesstrafe. Dafür würde er sich doch nicht entscheiden. Und damit müssen sie sich auseinandersetzen.

In der Villa Global findet also eine Verhandlung statt, in der es auch um Vielfalt unter den Kindern geht. Was ist entscheidend dafür, dass diese Verhandlung positiv ablaufen kann?

Wir haben im Projekt relativ viel Zeit und eine kleine Gruppe, mit der wir dort arbeiten. Bei der Arbeit mit Jugendlichen gibt es durchaus auch heftige Auseinandersetzungen. Ich gebe vielleicht ein anderes Beispiel, das ich sehr plakativ finde. Wir hatten eine Ausstellung zur NS-Zeit und da haben wir mit einer Klasse zwei Tage gearbeitet. Ein Mädchen aus der Gruppe, mit der ich gearbeitet habe, hat erzählt, dass ihr Islamlehrer gesagt hat, alle Juden seien Verräter. Ich habe ihr dann gesagt: „Wie wäre das als Fragestellung für dich? Du hast diese Aussage deines Lehrers und dann hast du hier die Ausstellung. Versuch doch herauszufinden, ob du glaubst, dass das stimmt, was der sagt.“ Dann hat sie sich wirklich ins Zeug gelegt und hat sich diese Ausstellung angesehen. Da gab es alle möglichen Bereiche, von der Rassenkunde zu biografischen Geschichten der Ausgrenzung von Kindern in der Schulzeit. Am Ende kam sie und sagte, dass sie glaubt, das stimmt nicht. Mit der Frage, warum der so etwas sagt, ist sie dann hinausgegangen. Das war schwer für sie auszuhalten. Ich als begleitende Pädagogin wusste, dass sie daran jetzt echt zu knabbern hat. Für mich war das aber eigentlich ein Paradebeispiel, was im besten Fall passieren kann.

Wie alt sind die ungefähr, also zum Beispiel diese eine Schülerin?

Die war in der fünften oder sechsten Klasse, also elf oder zwölf. Das ist aus meiner Erfahrung großartig. In diesem Alter ist noch nicht so viel so fest, dass daran eigentlich kaum mehr zu rütteln ist. Ich habe das Gefühl, dass es bei Kindern in diesem Altersspektrum, oder sagen wir vierte bis achte Klasse, ganz viel darum geht, auch eine eigene Position zur Welt zu entwickeln. Vieles ist erst mal da, was übernommen wurde ‑ aus dem Elternhaus, der Community, der Peer Group. Was wir eigentlich erreichen wollen, ist Möglichkeiten für Irritationen des Noch-mal-darüber-Nachdenkens zu schaffen und Material anzubieten, wo man sich tatsächlich selbst ein Bild machen kann. Wenn ich diesem Mädchen gesagt hätte, ich sehe das aber anders, könnte sie damit wahrscheinlich nichts anfangen. Dann hat sie noch eine Person, die ihr irgendwas sagt. Es ist unser Ziel, erst mal ein Feld aufzumachen wie im Zimmer von Jonni, um da noch mal zurückzukommen und Materialien anzubieten, damit man sich wirklich damit beschäftigen kann.

Marcel Bleuler, Ellen Roters ( 2019): „Um sich bestimmten Themen anzunähern, brauche ich auch die geführte Freiheit.“. Ellen Roters im Interview über anti-diskriminatorische Kulturvermittlung mit Jugendlichen.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/um-sich-bestimmten-themen-anzunaehern-brauche-ich-auch-die-gefuehrte-freiheit/