Kunst weiter denken
Kunstvermittlung als Fortsetzung der Kunst zu denken, eröffnet insofern auch neue Spiel- und Handlungsräume für die BesucherInnen, als sie Kunst nunmehr nicht nur rezipieren, sondern als Ressource für eigenständiges Denken und Handeln begreifen und einsetzen können. Die oben beschriebenen idealtypischen Modelle der Kunstvermittlung verdeutlichen hierbei, dass die Annäherung an die Ausstellung auf verschiedenen Ebenen im Spielraum zwischen dem eher emotionalen Wahrnehmen und dem eher rationalen Wissen passieren kann.
Während das (einfach) Wahrnehmen als ästhetische Erfahrung von den BesucherInnen zumeist in der direkten Auseinandersetzung mit der Kunst gesucht und gefunden wird, kommt der direkten visuellen Information des Kunstwerks als Auskunftsquelle für die BesucherInnen beim Akt des Entschlüsselns eine geringe Rolle zu. Vielmehr wird der Wunsch nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung vornehmlich an Vermittlungsangebote herangetragen. An der personalen Kunstvermittlung schätzen BesucherInnen vor allem die Rolle von VermittlerInnen als anwesende und von der Institution autorisierte SprecherInnen, welche ihnen mittels Hintergrundinformationen konkretes Handwerkszeug für die Auseinandersetzung mit der Ausstellung anbieten. Das in der Kopräsenz geteilte Wissen erscheint für die BesucherInnen somit nicht nur greifbarer, sondern auch verlässlicher. Die Face-to-Face-Situation vermag dabei als „Urtypus jeglicher sozialen Interaktion“ somit jenes Vertrauen „für die koordinierte Sinngebung und Sinndeutung“ erwecken (Raab/Soeffner 2005: 169f.), (* 10 ) um die Ausstellung als Zeichenspiel fassbarer zu machen.
Wem gehört die Bedeutung?
BesucherInnen betrachten Kunstvermittlung folglich als elementare Hilfestellung in ihrer Annäherung an die Kunst. Im positiven Sinne leisten diese Vermittlungselemente sozusagen emanzipatorische Hilfe, da BesucherInnen sich so in der Lage sehen, der Kunst kompetent entgegenzutreten. Allerdings offenbart sich hier meines Erachtens auch das Dilemma der Deutung, wenn BesucherInnen mit weniger Vorwissen ihre eigenen Interpretationen ohne Hilfsmittel möglicherweise als minderwertig betrachten oder erst über Hinweise der Vermittlung als legitimiert ansehen.
Die Frage nach der Bedeutungsmacht zeigt sich folglich als weit reichende gesellschaftspolitische Frage, über die verhandelt wird, welches Vorwissen in der Ausstellung gefragt und welcher Zugang zur Kunst mit symbolischem Kapital ausgestattet ist. Entgegen der herkömmlichen und auch gut gemeinten Vermittlungsdenkweise, die Leute dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, geht eine kritische Kultur- und Kunstvermittlung weiter. Aufbauend auf einem konstruktivistischen Verständnis von Lernprozessen nimmt sie bestenfalls jedes vorhandene Wissen ernst und sieht gleichzeitig auch die potenzielle Produktivität von Sprach- und Verstehenslücken gegeben (Mörsch 2009: 20f.). (* 6 ) Die Bedeutung eines Kunstwerks ist somit keine fixierte Einheit, die in einer Art Dienstleistung von KunstvermittlerInnen näher gebracht wird. Kunst verstehen ist vielmehr eine Frage der individuellen wie kollektiven Auseinandersetzung.
Luise Reitstätter ( 2013): Verstehen Sie Kunst?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/verstehen-sie-kunst/