Verstörende Zuversicht

Eine künstlerische Intervention im Bildungskontext

1.1 Die Vermittlung künstlerischer und kultureller Intervention im Bildungskontext – ein Tanz zwischen Widersprüchen

Nun stellt der Bildungskontext eine geradezu klassische Form einer hegemonialen Struktur dar, welche traditionell durch Hierarchien geprägt ist; durch vorgegebene Ziele, Zeit- und Qualitätsvorgaben und entsprechende Inszenierungen von Begegnungen wie zum Beispiel Frontalvorträgen und Prüfungen.
Einige humanistische pädagogische Bewegungen wie etwa Gestaltpädagogik, Themenzentrierte Interaktion, Systemische Pädagogik, Montessori- oder Freinet-Pädagogik haben Wege gefunden für offenere Räume zur Selbstbestimmung, für mehr Intersubjektivität und Augenhöhe-Qualität im Bildungskontext. Gestaltpädagogik fördert mit hohem Selbsterfahrungsanteil die Selbstreflexion und die Reflexion verdeckter Normen, das verbal nicht Erfassbare, die Kreativität im Selbstausdruck und in der Selbstrepräsentanz. Als der „educational turn“ in der Kunstvermittlung zum Thema wurde, haben sich auch im Bereich der Kunst Entwicklungen in Gang gesetzt, welche die überkommenen Hierarchien aufbrechen wollen. So zum Beispiel beim Versuch, einen offenen Raum des „Wir“ zu erzeugen, wie Nora Sternfeld dies beschreibt: „Kuratorische und vermittlerische Praxis werden dabei auch als das Abgeben von Sprech- und Definitionsmacht verstanden: ‚as an exercise in listening and distributed expertise‘.“ (Sternfeld 2012: 127)star (*7)

Durch solche Ansätze werden hierarchische Bildungsszenarien zwar stark relativiert, doch bleibt in jeder institutionalisierten Bildungssituation das Thema Hierarchie durch die Organisationsstruktur wirksam, auch wenn Didaktik und Inszenierung das oben genannte „klassische Arsenal“ entschärfen. Verstärkt wird die Wirkung der Organisationsstruktur durch bereits verinnerlichte Haltungen: Weil wir alle eine Sozialisation in Bildungskontexten durchlaufen haben, können die entsprechenden Rollenbereitschaften sich mehr oder weniger reinszenieren. Ist doch in den verinnerlichten, sozialisierten Szenen eine oft unbewusste, nicht reflektierte Erwartung und Bereitschaft vorhanden, sich vor zu viel Fremdbestimmung und pädagogischen Eindringlichkeiten zu schützen: Aktive oder passive Verweigerung, Distanzierung, aber auch besondere Folgsamkeit, „soziale Erwünschtheit“, unreflektierte Begeisterung und viele andere Überlebensstrategien sind jeder Person aus der Schulzeit geläufig und werden ebenso an Universitäten und in anderen Kontexten der Erwachsenenbildung sichtbar.
Auf diese Konstellation trifft das Anliegen der Selbstermächtigung künstlerischer Interventionen im Bildungskontext.

Indem Selbstrepräsentanz und Kritikfähigkeit zum vorgegebenen Lernziel werden, sind sie gleichzeitig Teil eines mehr oder weniger hierarchisch inszenierten Auftrags: „Sei kritisch und selbstbewusst!“ Dies birgt das Risiko der Konstruktion eines universitär oder schulisch erwünschten Selbstbildes als kritische, selbstbewusst gespielte Rolle, welche jedoch nur äußerlich bleibt. Wichtige, aber hier „unpassende“ Bedürfnisse und Empfindungen, wie z.B. tatsächlich vorhandene Distanz, Unsicherheit, Müdigkeit, Angst, Überforderung, Erschöpfung, Langeweile werden dann ausgeblendet als nicht „repräsentabler“ Teil des Selbst. Entwickeln sich solche Ausblendungen zur Gruppennorm innerhalb der Lern- oder Arbeitsgruppe, fördert dies eine universitäre Sozialisation zum „falschen Selbst“. Gleichzeitig können sich die „unpassenden“ Bedürfnisse quasi durch die Hintertür in Form der erwähnten Abwehrstrategien bemerkbar machen: als Intensivierung der Bemühungen ebenso wie als Minimalisieren des Arbeitseinsatzes, als Fehlzeiten oder innere Abwesenheit, sowohl bei einzelnen Personen als auch in der Lerngruppe.
Der Umgang mit diesem Paradoxon der „verordneten Autonomie“ ist eine zentrale Herausforderung emanzipatorischer Bildungsarbeit.

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