Öffentlicher Raum
In den 1960er Jahren wurde der öffentliche Raum – im Gegensatz zum institutionellen Raum der Museen, Ausstellungsräume und Galerien – als Ort des Kunstgeschehens zunehmend bedeutend, weil sich viele der neuen Kunsttendenzen nicht in den traditionellen Kunstinstitutionen verorten konnten und wollten, standen sie ja im radikalen Gegensatz zum Establishment. Dies geschah zu einer Zeit, als der öffentliche Raum generell zum Schauplatz wurde, an dem gesellschaftliche Konflikte sichtbar und hörbar ausgetragen wurden (z.B. Mai 1968 in Paris).
Seit den 1960er Jahren wurde der öffentliche Raum zunehmend privatisiert und überwacht. „New Genre Public Art“, die Kunst als soziale und politische Intervention in bestimmte konkrete Situationen versteht und manchmal auch als interventionistische Kunst bezeichnet wurde (Höller 1995a (* 4 ) und 1995b
(* 5 )), hatte in den 1990er Jahren Hochkonjunktur (Kwon 1997
(*6)). Kunst im öffentlichen Raum wurde seither zunehmend institutionalisiert und wird heute als eigenes Genre auch an Kunsthochschulen gelehrt. Kunst im öffentlichen Raum ist auf der einen Seite Teil von City-Marketingkonzepten und auf der anderen Seite eng verbunden mit verschiedenen sozialen, aktivistischen und politischen Bewegungen, die um das „Recht auf Stadt“ kämpfen. Die politische Dimension des öffentlichen Raums wurde nicht zuletzt in den weltweiten sozialen Bewegungen und Revolten der letzten Jahre in Kairo, Istanbul, Sao Paulo, Moskau etc., in denen die Besetzung öffentlicher Plätze eine große Rolle spielte, erneut deutlich.
Der öffentliche Raum ist ein Raum, in dem Konflikte sichtbar werden, und diese Konflikte stellen, wie Oliver Marchart (2004) (* 7 ) meint, erst Öffentlichkeit her. Hannah Arendt geht noch weiter und behauptet, dass „weltliche Wirklichkeit“ nur im öffentlichen Raum „zuverlässig in Erscheinung treten“ kann. „Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so daß die um sie Versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.“ (Arendt 2006: 72)
(*1)
Beschreibung und Analyse der künstlerischen Arbeiten
Als erstes Beispiel soll hier VALIE EXPORTs Tapp- und Tastkino aus dem Jahr 1968 besprochen werden, das ein frühes Exemplar einer feministischen Aktion/Intervention ist und als Meilenstein performativer, politischer und feministischer Kunst gesehen wird. Sanja Iveković’ Arbeit Lady Rosa of Luxembourg aus dem Jahr 2001 ist ein weiteres herausragendes Beispiel feministischer Kunst im öffentlichen Raum. Sie zeigte sowohl eine Auseinandersetzung mit dem Genre des Denkmals als auch mit den Fragen der Beteiligung und der Partizipation großer Öffentlichkeiten, die durch heftige Kontroversen in Bezug auf die Arbeit ausgelöst wurden. Mit dem Punk-Gebet der russischen Band Pussy Riot 2012 ende ich mit einem Beispiel, dessen Einschreibung in die Kunstgeschichte keineswegs sicher ist, denn der Live-Act der Aufführung hat stattgefunden, die eigentliche Arbeit ist jedoch ein Videoclip auf youtube, in dem dokumentiert ist, wie die Musikerinnen den Kirchenraum radikal umdefinieren.
VALIE EXPORT: Tapp- und Tastkino, diverse Orte, 1968
Aus mehreren Gründen gingen die Frauen (und nicht nur diese) Ende der 1960er Jahre mit avantgardistischen Projekten in den öffentlichen Raum: Frauen waren in den Kunstinstitutionen nicht repräsentiert und die neuen künstlerischen Entwicklungen fanden generell kaum Eingang in die traditionellen Kunstinstitutionen. Darüber hinaus war es den Künstlerinnen ein großes Anliegen, ein neues Publikum, neue, andere Öffentlichkeiten als das BildungsbürgerInnentum, das man im Museum erreichen konnte, anzusprechen. So wie sich die neuen gesellschaftlichen und sozialen Bewegungen an „alle“ richteten, nicht nur an BildungsbürgerInnen, so wollten auch die Künstlerinnen „alle“, also auch den Mann und die Frau von der Straße, sowohl den Fabrikarbeiter als auch die Studentin, erreichen. Außerdem wollten die Künstlerinnen den öffentlichen Raum, in dem sie bisher eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, als Lebensraum in Besitz nehmen und als Bühne für ihre Kunst und für gesellschaftliche Anliegen beanspruchen. Die Frauen stellten einen Machtanspruch, indem sie postulierten: „Der öffentliche Raum gehört (auch) uns!“
VALIE EXPORT beschreibt ihr Tapp- und Tastkino so: „Die Vorführung findet wie stets im Dunkeln statt. Nur ist der Kinosaal etwas kleiner geworden. Es haben nur zwei Hände in ihm Platz. Um den Film zu sehen, d.h., in diesem Fall zu spüren und zu fühlen, muß der Zuschauer (Benutzer) seine beiden Hände durch den Eingang in den Kinosaal führen. Damit hebt sich der Vorhang, der bisher nur für die Augen sich hob, nun endlich auch für beide Hände. Die taktile Rezeption steht gegen den Betrug des Voyeurismus. Denn solang der Bürger mit der reproduzierten Kopie sexueller Freiheit sich begnügt, erspart sich der Staat die sexuelle Revolution. »Tapp- und Tastkino« ist ein Beispiel für die Aktivierung des Publikums durch neue Interpretation.“ (* 13 )
PassantInnen wurden von einer Person mit Megafon lautstark aufgefordert, jeweils 33 Sekunden in das Tapp- und Tastkino (ein kleiner Kasten vor den nackten Brüsten der Darstellerin, in allen Fällen mit einer Ausnahme VALIE EXPORT selbst) hineinzugreifen und der Darstellerin dabei in die Augen zu schauen. Der Blick in der Dunkelheit des Kinos auf den Körper der Schauspielerin auf der Leinwand wird zum Blick in die Augen der Darstellerin im öffentlichen Raum, bei gleichzeitiger Transformation des Sehsinns in den Tastsinn. Diese Aktion wurde in vielen Städten aufgeführt und rief ein enormes Medienecho hervor.
VALIE EXPORTs Tapp- und Tastkino ist ein Beispiel dafür, wie die Künstlerin das Verhältnis von BetrachterInnen und Objekt/Subjekt der Betrachtung selbst in die Hand nimmt und die Koordinaten für diese Begegnung respektive dieses Verhältnis selbst definiert. Entscheidend dabei ist, dass sie mit dieser „Aktion“ in den öffentlichen Raum geht, hinaus aus dem geschützten anonymen Kino-/Kunstraum.
EXPORT nennt ihre Projekte, wie alle VertreterInnen des Wiener Aktionismus, „Aktionen“, wobei das Tapp- und Tastkino für sie ein „expanded cinema“, ein Medienprojekt, darstellt. Die Arbeit ist prozesshaft, tritt in Dialog mit den BetrachterInnen/Teilnehmenden, was sie im Kontext des Wiener Aktionismus zu einer Ausnahme macht. Ich würde die Arbeit jedoch nicht als partizipativ bezeichnen, denn sie gibt den Teilnehmenden klare Regeln vor und lässt keinen Gestaltungspielraum zu.