„Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“

Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül

Was bedeutet Teilhabe in Kunst und Kultur für dich?

Kunst existiert für mich nicht für sich allein. Wenn andere Menschen sie nicht genießen können, dann ist sie eine Art Selbstbefriedigung und nicht für ein Publikum gemacht. Es gibt verschiedene Konzepte: Teilhabe heißt ja nicht nur das Betrachten oder Wahrnehmen als Zuschauer:in, was viele Teile der Gesellschaft gar nicht erleben können. Teilhabe bedeutet eben auch Mitgestaltung und Mitbestimmung. Dies kann rezipierend, zuschauend und agierend geschehen, und je nachdem braucht es andere Zugänge. Was wir mit diverCITYLAB versucht haben, ist ein Rollentausch, von der Rolle der Zuschauer:innen zu Agierenden. Teilhabe im Sinne davon, dass ich mitbestimme und -gestalte als Darsteller:in und Performer:in auf der Bühne oder aber auch als Konzeptentwickler:in, um somit ein Sprachrohr für ein Gebilde, eine Community zu werden und die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden.

Wir versuchen, jene Menschen, die üblicherweise in der Rolle der Zuschauer:innen sind, zu professionalisieren, so dass sie zu Agierenden werden. Dadurch erst wird sich das Rezipieren eines Kunstprojekts auch für andere Communitys öffnen. Wenn unterschiedliche Menschen auf den Bühnen sichtbar sind, werden auch unterschiedliche Menschen die Kunst betrachten. Also gilt es, Fragen in den Fokus zu stellen wie „Für wen wird die Kunst gemacht, wer macht die Kunst und mit wem?“ Es braucht diese Auseinandersetzung, wenn die Kunst sich für einen breiten Teil der Gesellschaft öffnen möchte.

Als immer mehr Kulturinstitutionen bewusst geworden ist, dass es eine Öffnung braucht, wurde die Frage nach der Publikumsschicht ins Zentrum gerückt, eben Fragen wie: „Warum kommen diese Leute nicht ins Theater und wie bringen wir sie ins Theater?“. Ich würde sagen, dass diese Fragen überhaupt Thema wurden, ist auf verkaufsstrategische Gründe zurückzuführen. Ich rede hier von der Zeit vor fünfundzwanzig Jahren und bezogen auf Theater-Institutionen. Viele Institutionen haben relativ früh erkannt, dass den verschiedenen Communitys die Institutionen sehr fremd sind. Bei der Frage, wie Türen geöffnet werden können, war oft die Antwort, dass es Projekte und Workshops explizit für diese Communitys brauche, so dass sie mit den Institutionen in Berührung kommen.

Solch ein Zugang trennt jedoch in Positionen von ‚wir‘, die Anbietenden, und ‚die‘, die Konsumierenden. Auch ein Workshop ist eine Konsumation, wenn es keine Teilhabe in dem Sinne, dass ich mitgestalte oder mitentscheide, gibt. Die Konzepte, in welchen Mitgestaltung und Mitbestimmung mitgedacht werden, sind erst später hinzugekommen, weil immer mehr erkannt wurde, dass es nicht ausreichend sein kann, die Türen zu öffnen und zu sagen: „Kommt, wir machen einen Workshop nur für euch.“ Dieser Zugang offenbart einen Statusunterschied, und wenn man sich als Institution wirklich öffnen möchte, muss man diesen gap schließen.

diverCITYLAB Studierende 1.-2. Jahrgang 2016: © Selen Heinz

diverCITYLAB Studierende 1.-2. Jahrgang 2016 © Selen Heinz

Aslı Kışlal, Dilan Sengül ( 2022): „Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“. Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/wir-muessen-lernen-die-ungehoerten-stimmen-zu-hoeren/