„Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“

Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül

Welche Rolle spielen deiner Meinung nach Klasse und soziale Herkunft in Hinblick auf Diversität im Kultursektor?

Ich kenne die aktuellen Zahlen nicht, aber vor zehn Jahren war die Diversität bei Theaterbesucher:innen sehr minimal. Es verändert sich jedoch etwas, und dabei spielen die vielen Projekte im öffentlichen Raum eine große Rolle. Auch Projekten wie WIENWOCHE kommt hier eine zentrale Rolle zu. Zudem verstehen die Institutionen immer mehr, dass es eine Öffnung braucht und gehen bewusst nach außen, zu den Menschen, in die diversen Räume, um sie zu erreichen. Hier sehe ich eine positive Veränderung, weil Kunst zuvor nur für eine sehr kleine Gesellschaftsschicht zu konsumieren war, nämlich eine akademische Schicht. Das ist nach wie vor so, aber auch die akademische Schicht verändert sich und mehr Menschen aus unterschiedlichen Klassen finden darin Eingang, auch wenn die Ungleichheit in der Bildung nach wie vor gegeben ist.

Ich denke, dass Menschen, die Bildung genossen haben, ein größeres Bedürfnis haben, sich mit Kunst zu beschäftigen. Sie haben einen anderen Zugang zu Kunst und Kultur. Es gibt jedoch sehr wohl Unterschiede, je nachdem über welchen Klassenhintergrund jemand verfügt und ob Zugang zu Kunst mit dem Bildungsaufstieg entsteht oder ob aufgrund der Klassenzugehörigkeit Zugang und eine gewisse Selbstverständlichkeit bereits immer da waren – also das Verfügen über Sprache, Codes und Verhaltenskodex, um sich anzupassen und zugehörig zu fühlen – oder ob dies noch zu lernen ist. Auch wenn es erlernbar wäre, muss das nicht bedeuten, dass das Gefühl der Zugehörigkeit zur akademischen Schicht und der Zugang zu Kunst somit vorhanden ist. Aber ja, prinzipiell denke ich, dass das Bedürfnis, Kunst und Kultur zu genießen, sehr stark mit der Frage zusammenhängt, ob Bildung genossen wurde.

Das kleine Gespenst von Otfried Preußler, Landestheater Niederösterreich 2021, Inszenierung: Aslı Kışlal © Alexi Pelekanos

Das kleine Gespenst von Otfried Preußler, Landestheater Niederösterreich 2021, Inszenierung: Aslı Kışlal © Alexi Pelekanos

Du arbeitest seit mehreren Jahren im Kunst – und Kulturbetrieb. Wenn du an die verschiedenen Arbeitszusammenhänge denkst, in denen du bisher warst, wo würdest du sagen, gab es Hürden und Diskriminierungen? Welche Maßnahmen fallen dir ein, die zu einer Verbesserung führen?

Inzwischen sind es schon mehrere Jahrzehnte – wir sind vom 20. ins 21. Jahrhundert gekommen, während ich in dem Bereich gearbeitet habe. Um positiv zu beginnen, ich denke auf alle Fälle, dass sich mit jedem Tag etwas verändert, mit jedem Projekt, das auf der Welt entsteht. Insbesondere in den letzten zehn Jahren hat sich auch ziemlich schnell viel verändert. Davor hatte ich das Gefühl einer Stagnation. Die Normen wurden nicht in Fragen gestellt, eher war die Kunst stolz darauf, nur eine bestimmte Schicht anzusprechen und für diese zu spielen. So wie es noch immer in den großen bürgerlichen Institutionen zu sehen ist, wo Designer-Klamotten getragen und mit Sekt in den Abend gefeiert wird. Dieses Bild der Kunst war ein sehr gängiges Bild, welches auch gepflegt wurde. So wie der Mythos über Schauspieler:innen und Künstler:innen als exzentrische, aneckende Personen. Und ja, da bin ich kritisch, es gibt diese Institutionen weiterhin, die dieses Bild pflegen. Da frage ich mich tatsächlich, ob die seit dem 19. Jahrhundert überhaupt mal auf der Straße waren. Von den Themen über die Kostüme und das Bühnenbild bis dahin, wie etwas dargestellt und für wen es dargestellt wird, sind manche Häuser ein eigener Kosmos, eine unglaubliche Bubble in sich.

Aslı Kışlal, Dilan Sengül ( 2022): „Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“. Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/wir-muessen-lernen-die-ungehoerten-stimmen-zu-hoeren/