„Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“

Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül

Doch ist es für mich auch ein Fakt, dass, je früher man anfängt, Kunst zu genießen und die Sprache und Codes zu kennen, desto mehr ist es möglich zu reagieren, agieren und mitzugestalten. Deshalb finde ich es unglaublich wichtig, Kunst so früh wie möglich anzusetzen, so dass bereits Kinder davon profitieren. Denn das bedeutet Veränderung für die Zukunft der Kunst, mit ihren Mitgestalter:innen und ihrem Publikum. Nur so wird sich dieses gängige Bild, welches nur eine Schicht und die eigene Bubble ansprechen möchte, verändern. Deshalb ist es besonders wichtig, die Entwicklung der Kunst zu beobachten und genau zu analysieren, wer jetzt bereits mitmacht und wer noch immer nicht. Ich sehe da eine positive Entwicklung – die Kunst wird in Frage gestellt, der Status der Kunst wird in Frage gestellt und daraus resultieren viele Programme und Maßnahmen. Nur so verändert sich Kunst.

medea 2021 Inszenierung: Aslı Kışlal  © Tim Müller

medea 2021 Inszenierung: Aslı Kışlal  © Tim Müller

Aber um zu mir zurückzukommen, ich bin aus einer bürgerlichen Schicht nach Österreich gekommen, war jedoch ökonomisch betrachtet in einer miserablen Situation. Da ich bereits in frühen Jahren Kunst genießen durfte, war es für mich ein notwendiger Teil meines Lebens, dies auch weiterhin zu pflegen. Wenn ich 1000 Schilling im Monat zur Verfügung hatte, habe ich mindestens ein Fünftel davon für Kunst ausgegeben. Ich musste mich entscheiden, ob ich wieder Nudeln esse oder lieber ins Theater gehe, ob ich mir ein Buch, eine Schallplatte oder bessere Schuhe kaufe oder ob ich lieber mit schlechten Schuhen, aber dafür ins Theater gehe. Es war immer ein Abwägen und Kunst hatte in meinem Fall öfter die Oberhand, weil sie für mich eine Notwendigkeit war. Der Grund dafür war, dass ich bereits in jungen Jahren mit der Kunst in Verbindung kam und eben dieser Zugang da war. Als ich dann selbst angefangen habe, im Kunstbetrieb tätig zu werden – und ich sah mich intellektuell schon als sehr gut gerüstet an –, war ich auf einmal damit konfrontiert, dass ich den Codex hier nicht kenne. Das war plötzlich ein ganz neues Universum, das in sich sehr geschlossen war. Es kamen oft sehr bescheuerte Sätze wie ,,sie kann ihre Hände nicht bewegen, sie hat keine europäischen Bewegungen“. Das heißt, die Kunst, die hier rezipiert wurde, war eine andere Kunst als die, die ich anbieten konnte. Sprachlich wurde ich als defizitär eingeordnet, und meine Körpersprache war eben auch nicht jene, die sie gewohnt waren, auf der Bühne zu sehen. Wenn ich an dieses Verständnis von Kunst vor dreißig Jahren zurückdenke, sehe ich schon, dass wir weit gekommen sind. Damals war die Angst viel größer, die Abonnenten zu verlieren, wenn eine Migrantin auf der Bühne stand. So wurde mir gegenüber auch argumentiert. Heutzutage kann in dieser Form nicht mehr argumentiert werden; die Angst ist viel zu groß, als rassistisch benannt zu werden.

Das soll nicht bedeuten, dass wir bereits angekommen sind. Wir sind am Anfang, die Diskussionen haben erst jetzt begonnen. Diese führen natürlich in unterschiedlichen Ecken zu Panik. Denn es gibt jetzt neue Sprachen und einen anderen Codex, und die etablierten Institutionen haben Angst, da sie diesen Codex nicht beherrschen. Panik ist gut. Es bedeutet Entwicklung. Wir haben in diesem Gebilde dreißig Jahre lang mit Panik gelebt und versucht uns anzupassen, um die Institutionen zu verändern, und nun sind sie dran, diesen neuen Codex zu integrieren und den Panikzustand zu erleben. Es flößt Institutionen ja schon Angst ein, die Frage zu beantworten, wie viele Frauen in Leitungspositionen sind, da es ihren Ist-Zustand vor Augen führt und sie sagen müssen, dass Gleichberechtigung nicht stattfindet.

diverCITYLAB produktion 2017:  Community College © Maximilian Pramatarov

diverCITYLAB produktion 2017: Community College © Maximilian Pramatarov

Aslı Kışlal, Dilan Sengül ( 2022): „Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“. Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/wir-muessen-lernen-die-ungehoerten-stimmen-zu-hoeren/