„Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“

Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül

Was müsste sich auf struktureller Ebene verändern, damit der Kunst-und Kulturbetrieb auch diverser und gerechter ist?

Viele Fragen werden weiterhin emotional behandelt. Es braucht mehr Fakten, also Studien und Daten, so dass Menschen, die von Ausschluss betroffen sind, nicht auf eine emotionale Geschichte reduziert werden. Nur mit Fakten kann klar argumentiert werden und politische Hebel können in Gang gesetzt werden. Dafür braucht es aber einen politischen Willen. Es ist ein politisches Spiel, und ich habe in den dreißig Jahren in meiner Arbeit gelernt, wie wichtig es ist, mit Fakten zu arbeiten, auch in dem Sinne, Fakten zu verlangen.

In meiner künstlerischen Arbeit ist mir der emotionale Zugang wichtiger, aber in meiner politischen Arbeit finde ich es besonders wichtig, bei den Fakten zu bleiben. In Deutschland sind vielen durch die gender reports die Augen geöffnet worden. Es sind die unterschiedlichen Gruppen von BPOC-Aktivist:innen, die die Missstände öffentlich gemacht haben. Das hatte einen Einfluss auf die verschiedenen Institutionen. Wenn du in Deutschland in einem Staatstheater als Mitarbeiter:in neu anfängst, musst du einen Vertrag unterschreiben, in dem du zur Kenntnis nimmst, dass jegliche Diskriminierung und sexuelle Überschreitung bestraft werden. Auch, um in Deutschland zu bleiben, ist das Projektbüro Diversity Arts Culture ein großartiges Beispiel. Es zu gründen, ist durch die jahrelange Hintergrundarbeit von BPOC-Aktivist:innen gelungen. Nun sind sie als Expert:innen sichtbar und in den Institutionen nicht nur beratend und begleitend tätig, sondern wirken in diese hinein und gestalten sie mit. Es braucht den Druck von unten, also Bottom-Up-Projekte und Initiativen, damit sich Institutionen bewegen und die Politik Maßnahmen umsetzen.

Das Problem mit der Kunst ist der Anspruch, dass die künstlerische Freiheit und Kunst frei sein müssen und Politik sich nicht in die Kunst einmischen darf. Das sind vollkommen richtige Ansätze. Aber wenn wir vom Kunstschaffen reden, reden wir oft nicht von Kunst, sondern von Institutionen, die Kunst betreiben. Diese Institutionen müssen sich an bestimmte Bestimmungen von den Menschenrechtskonventionen bis hin zu Diskriminierungsklauseln halten. Wir müssen uns schämen, dass es im 21. Jahrhundert immer noch einen gender pay gap gibt. Der postmigrantische Zugang und der feministische Kampf haben unglaubliche Parallelen. Aus den Erfahrungen des Feminismus zu lernen und sie in den postmigrantischen Kampf zu integrieren, ist aber nicht so leicht, denn die Gesellschaft ist bei solchen Veränderungen langsam. Diese Mini-Schritte müssen wir gehen, denn sie sind wichtig. Aber sie müssen schneller gesetzt werden, weil wir auch in einer schnelllebigen Zeit leben. Das macht natürlich noch mehr Panik. Wir reden mittlerweile über Cancel Culture und diese schnellen Entwicklungen, schüren in bestimmten Kreisen auch Angst.

Was ist deine Meinung zu den Debatten um Cancel Culture?

Ich liebe die Zeit des Verlernens. Alles, was wir bis jetzt gelernt haben, in Frage zu stellen. Alles was Norm war, neu zu hinterfragen und genau hinzublicken, wie diese Norm entstanden ist und wie blind wir das oftmals akzeptiert haben – und wie wir es heute verändern können. Ich bin nicht besonders radikal, aber ich bin gerne eine Beobachterin. Verbote stelle ich auf jeden Fall in Frage. Ich frage mich, welchen Nutzen dieses Verbot hat. Wie kann die Norm gebrochen, in Frage gestellt werden und wer hat Angst davor? Wer sind denn die Leute, die „Cancel Culture!“ schreien. Sind das diejenigen, die bis jetzt eigentlich immer alles sagen dürfen, ohne mit irgendwelchen Konsequenzen zu rechnen? Und wie kann man mit ihrer Angst vor Konsequenzen umgehen?

Wenn plötzlich von einer Seite eine Stimme kommt, die bis jetzt unterdrückt war, und du die Person bist, die diese Tonlage noch nie gehört hat, und dich das irritiert, ist das für mich als Künstler:in ein sehr spannender Moment – diese Irritationen, diese Panik. Diese Töne müssen wir lernen zu hören.

eine frau unterrichtet in einem hörsaal

© Trafo.K

Aslı Kışlal, Dilan Sengül ( 2022): „Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“. Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/wir-muessen-lernen-die-ungehoerten-stimmen-zu-hoeren/