Wozu das Ganze?

Absichten, Zwecke und Wirkungen sozietärer künstlerischer Partizipationsprojekte

Kommunikationsanlässe schaffen, über Identität verhandeln: Das „Leitsystem zum Neuen“ der Reinigungsgesellschaft

Ein Beispiel einer sozietären künstlerischen Praxis, die gesellschaftliche Aufgaben adressiert, kollektive Diskussionen und Aushandlungen initiiert und Veränderungsprozesse moderiert, ist das Leitsystem zum Neuen der Reinigungsgesellschaft – vor allem deshalb, weil die Künstler Absicht und Wirkung ihres Projektes in ein beeindruckendes Verhältnis setzten.

2008 rief die Deutsche Stiftung Kulturlandschaft das Modellprojekt Kunst fürs Dorf. Dörfer für Kunst ins Leben, mit der Zielstellung, KünstlerInnen und BewohnerInnen des ländlichen Raumes für konkretes partizipatives künstlerisches Arbeiten vor Ort zusammenzuführen. Als Teil dieses Modellprojektes zog Anfang 2009 die Künstlergruppe Reinigungsgesellschaft, bestehend aus Martin Keil und Henrik Mayer, nach Grambow, einer 700-Seelen-Gemeinde in der Nähe von Schwerin. Ohne Arbeitsplätze und eigene Infrastruktur war diese zu einer reinen Pendlersiedlung ohne Gemeinschaftsbewusstsein und Handlungsperspektive degeneriert. In dieser Situation versuchten die beiden Künstler, gemeinsame Aufgaben zu identifizieren, um darüber gemeinsam mit den BewohnerInnen Perspektiven für den Ort zu enwickeln. Eine Projektion in die Zukunft ‑ „Wie könnte oder sollte Grambow in 50 Jahren aussehen?“ ‑ initiierte eine Reflexion darüber, wie das Dorf nachhaltig gestaltet werden könnte. Die Kommunikation erfolgte über einen Fragebogen, über mehrere öffentliche Termine und viele Einzelgespräche. Auf der Basis der Ergebnisse der Befragungen erstellte die Reinigungsgesellschaft Diagramme und Schaubilder, die im Gemeindezentrum ausgestellt und durch diskursive Formate flankiert wurden.

Die in dieser kollektiven Wissensproduktion generierten Erkenntnisse und Ideen setzten die Künstler in ihrem Leitsystem zum Neuen gestalterisch um. Hierbei handelt es sich um Piktogramme in der Größe und Erscheinung von Verkehrsschildern, die auf die für Grambow drängenden Aufgaben der Zukunft verweisen wie zum Beispiel den demographischen Wandel, die schlechte Infrastruktur oder alternative Energiekonzepte. Indem die Hinweis- und Warnschilder das Format der Verbots- bzw. Gebotsschilder aufgreifen und damit an die Form bestehender gesellschaftlicher Regelwerke andocken, erleichtern sie den Zugang zu dem künstlerischen Prozess, gesellschaftliche Aufgaben kollektiv zu definieren, sichtbar zu machen und durchzusetzen. Aufgestellt auf einer gut einzusehenden öffentlichen Grünfläche entlang der Dorfstraße, boten die Schilder Orientierungspunkte für das gesellschaftliche Handeln der GrambowerInnen, als Agenda waren sie täglich präsent (Reinigungsgesellschaft 2013).star (*9)

Leitsystem zum Neuen. © Reinigungsgesellschaft

Leitsystem zum Neuen. © Reinigungsgesellschaft

Noch im selben Jahr wurde auf Initiative der Reinigungsgesellschaft der „Grambower Moorbote“ gegründet, ein seitdem monatlich erscheinendes Informationsblatt. Hier haben alle BewohnerInnen die Möglichkeit, ihre Arbeit, Hobbys, Veranstaltungen oder auch kommunalpolitische Themen vorzustellen. Damit können sich erstmalig alle Menschen der Gemeinde über die Geschehnisse im Dorf informieren und austauschen. Diese Initiative zur Verbesserung der Kommunikation wird bis heute mit großer Begeisterung betrieben.

Ebenso entstand in der Nachfolge des Projektes im Gemeindehaus eine Bibliothek aus gespendeten Büchern, neben Tanzabenden finden dort seitdem auch wöchentlich Tischtennis- und Seniorenabende statt. Vor allem aber schlugen einige GrambowerInnen vor, zur Verbesserung der Versorgung und der Kommunikation einen Dorfladen einzurichten. Als Genossenschaft betrieben, konnte dieser schließlich 2014 eröffnet werden, mit einer neu geschaffenen Vollzeitstelle. Angeboten werde Milch, Obst, Gemüse, Wildspezialitäten und Honig aus lokaler Produktion (Reinigungsgesellschaft 2013;star (*9) Reinigungsgesellschaft 2015star (*10)).

Der Wunsch der Auftraggeberin des Projektes, der Deutsche Stiftung Kulturlandschaft, war es gewesen, in einem kollaborativen Prozess eine Zukunftsperspektive für Grambow zu entwickeln. Die Reinigungsgesellschaft verfolgte das Ziel, das vor Ort vorhandene (Innovations-)Potenzial frei zu setzen und zu unterstützen. Gerade die Bottom-up-Struktur des Projektes führte in der Folge zu einer hohen Akzeptanz der initiierten Einzelmaßnahmen. Die Wirkung des Engagements der Künstlergruppe in der Gemeinde Grambow ist eine regionalentwicklungspolitische und zugleich eine individuell und mikropolitisch emanzipative: Henrik Mayer und Martin Keil öffneten Raum für gemeinsame Ideenentwicklung, sie aktivierten die GrambowerInnen, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen.

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Bölter, Frank (2015): E-Mail-Korrespondenz mit der Autorin, Oktober 2015.

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Deutsche Stiftung Kulturlandschaft (Hg.) (2014): Kunst fürs Dorf. Dörfer für Kunst. Deutschland 2013. Husum: Verlag der Kunst.

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Feldhoff, Silke (2009-1): Zwischen Spiel und Politik. Partizipation als Strategie und Praxis in der Kunst. (= Dissertation an der Universität der Künste Berlin), https://opus4.kobv.de/opus4-udk/files/26/Feldhoff_Silke.pdf.

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Feldhoff, Silke (2009-2): Formen partizipatorischer Praxis in der Kunst. Begriffe, Entwicklungen, Typen – eine Standortbestimmung. In: van den Berg, Jörg /Columbus Art Foundation (Hrsg.): Frank Bölter. Katalog. Leipzig: revolver verlag, S. 157-173.

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Informationsdienst des kulturwerkes des bbk berlin (Hrsg.) (2011): kunststadt | stadtkunst 58, Berlin.

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Informationsdienst des kulturwerkes des bbk berlin (Hrsg.) (2012): kunststadt | stadtkunst 59, Berlin.

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ith ZHdK (2007): Paradoxien der Partizipation. In: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK Nr. 10/11.

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Kunstforum International (2012): Prozent Kunst. Kunst am Bau in Bewegung. Bd. 214.

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Reinigungsgesellschaft (2013): Reinigungsgesellschaft. 2-bändiger Katalog. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst.

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Reinigungsgesellschaft (2015): E-Mail-Korrespondenz mit der Autorin, Oktober 2015.

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Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration. edition Suhrkamp.

Vgl. aktuell Kunstforum International Bd. 240 (Juni-Juli 2016): Get Involved! Partizipation als künstlerische Strategie.

Vgl. die ausführlich entwickelte Typologisierung partizipatorischer Praxen in Silke Feldhoffs Dissertation „Zwischen Spiel und Politik. Partizipation als Strategie und Praxis in der Kunst“, Universität der Künste Berlin 2009, siehe Feldhoff 2009-1 und Feldhoff 2009-2.

Die Ausschreibung, die Wettbewerbsbeiträge und die Juryempfehlung finden Sie in Text und Bild  dokumentiert in: Informationsdienst 2011, S. 31-32.

Stephan Kurr im Gespräch mit Constanze Eckert, Berlin 2011, unveröffentlichtes Typoskript, kann bei der Autorin eingesehen werden.

Für die Schulleitung war es essentiell, dass als Ergebnis des partizipativen Prozesses eine manifeste, materielle Gestaltung realisiert wird, die über das Projektende hinaus im Außenraum der Schule verbleibt. Damit sollte eine nachhaltige Belebung des Schulaußenraums auch für folgende Generationen von SchülerInnen sichergestellt werden.

Der Film kann über dvd@kurr.org bezogen werden; weitere Informationen in: Informationsdienst 2012, S. 13f.

Vgl. hierzu ith ZHdK 2007.

Silke Feldhoff ( 2016): Wozu das Ganze?. Absichten, Zwecke und Wirkungen sozietärer künstlerischer Partizipationsprojekte. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/wozu-das-ganze/