Stop and Go. Nodes of Transformation and Transition

Wenn immer mehr Menschen gezwungen sind, immer mehr Zeit unterwegs zu verbringen, dann werden die Knoten, an denen der Verkehrsfluss angehalten wird, zu idealen Orten, an denen sowohl die Kontroll-Strategien (supra-)staatlicher Institutionen und großer Unternehmen, als auch die Mobilitäts-Motive und -Biographien der sie passierenden Personen abgelesen werden können.

Hierbei entsteht ein dynamisches Modell multilokaler Urbanität (Bittner et al. 2006)star (*2) aus miteinander vernetzen Archipelen, die jeweils nur Stationen einer Tour von Individuen oder Objekten in ihren Vehikeln darstellen. Sie sind jedoch nicht stetig, sie können durch neue Knoten ersetzt, obsolet werden und verwahrlosen. Informelle Knoten können formalisiert und kontrolliert werden, und an anderen Orten können neue informelle Knoten entstehen. Dieses Modell ist eng an individuelle Mobilitätsmuster gebunden und unterliegt den mannigfaltigen Rhythmen der Verkehrsströme – täglich, wöchentlich, saisonal etc. verdichten oder lockern sich die Aktivitäten an diesen Archipelen auf. Mitunter verwandeln sich dabei anthropologische Nicht-Orte (Auge 1995)star (*1) (an denen bestenfalls Objekte miteinander kommunizieren) zu intimen Ankern im Alltag der multilokalen Existenz hochmobiler Subjekte, an denen sie Rituale und Routinen (Reijndorp 2009)star (*5) entwickeln, um sich zu erholen, um Kontakte in die Ziel- und Quellregionen aufzunehmen, aber auch, um vor Ort fragmentierte Gemeinschaften zu pflegen.

Um die sozialräumlichen Transformationen von Halte- und Knotenpunkten entlang der paneuropäischen Straßenverkehrs-Korridore nach dem Fall des eisernen Vorhanges zu untersuchen, befuhren wir mit einem Ford Transit mitsamt Anhänger das geographische Dreieck zwischen Wien, Tallinn und der bulgarisch-türkischen Grenze.
Inspiriert von Argumenten der interdisziplinären Mobilities Studies und bezugnehmend auf deren Forderung nach der Anwendung von ‚mobilen Methoden‘ dienten Transporter und Anhänger als Mittel des Feldzugangs, als Werkzeug für ‚embedded research‘ und als mobiles Labor (Büscher/Urry 2009),star (*3) um live vor Ort die Mobilitätserfahrungen der Akteur_innen nachzuzeichnen. Die Verbindung von Kartografie und comicartigen Darstellungen (Roberts 2016)star (*6) – mit Verweis auf die universelle bildorientierte Sprache (Groß 2015)star (*4) in der Infografik von Verkehrsleitsystemen – verstanden wir hier jedoch nicht allein als Methode zur Repräsentation des Endproduktes, sondern als Werkzeug der Interaktion und Mittel permanenter Re-Organisation und Re-Evaluierung der generierten Wissensformen: Wir suchten zunächst geeignete Orte, an denen Begegnungen mit einer Vielzahl von Expert_innen mit Mobiltätserfahrungen aus unterschiedlichen sozialen Feldern zu erwarten waren. An diesen Orten stellten wir öffentlich zugängliche Settings oder ‚Bühnen der Kommunikation’ her, mittels derer wir das von unseren Interviewpartner_innen in Form von Erzählungen, Fotografien und Artefakten eingebrachte Wissen möglichst unmittelbar und vor Ort in allgemein verständliche visuelle Darstellungen übersetzten. Dadurch wurden wiederum andere Passant_innen bzw. Besucher_innen, potenzielle Träger_innen impliziten Wissens, dazu animiert, dieses mit uns zu teilen. Zu diesem Zweck verwendeten wir beispielsweise bei Interventionen im Außenraum unseren Anhänger als Träger für Displays, um darauf live großformatige Karten zu zeichnen. Für eine dreidimensionale Wegenetz-Installation, die vor dem Fährterminal in Tallinn aufgestellt war, nutzten haben wir den Anhänger als Unterkonstruktion. Bei Interventionen in Innenräumen setzten  wir das im Laderaum unseres Transporters mitgeführte Ausstellungssystem ein, auf dem unter anderem die zur Verfügung gestellten Fotos und Objekte gezeigt wurden.
Um diesen Ablauf fortzusetzen und auch Zwischenstände öffentlich zugänglich zu machen, mieteten wir ab der Mitte der Projektlaufzeit auch einen eigenen Projektraum in einem Logistik-Areal am Wiener Nordwestbahnhof an.

Die intensiven Forschungsreisen begannen im August 2014. Die ersten Teil-Etappen führten uns von Wien nach Tallinn, weiter nach Bulgarien – auf diesen beiden Abschnitten in Begleitung unserer lokalen Forschungspartner_innen (Tarmo Pikner, Human-Geograph aus Tallinn, und Emiliya Karaboeva, Anthropologin und Historikerin aus Sofia) und schließlich zurück nach Wien. Auf dem Weg testeten wir unsere Thesen und Methoden an unterschiedlichen Knoten im Feld. Im Frühjahr 2015 organisierten wir mit unseren Forschungspartner_innen Workshops und kleine Ausstellungen an den Universitäten Tallinn und Sofia. Dabei legten wir die zentralen Case Studies fest: Wien galt seit jeher als ‚Drehscheibe zwischen Ost und West’ und wird von wichtigen Routen durchzogen. Daher lassen sich hier – obwohl diesseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs gelegen – auch die Transformationen eines großräumigeren geopolitischen Umfelds vorzüglich nachzeichnen, insbesondere über die Geschichte und räumliche Verdrängung des internationalen Busbahnhofes. Tallinn in Estland und die bulgarisch-türkische Grenzregion liegen an den entgegengesetzten Enden einer bedeutenden Nord-Süd-Achse in historisch sehr unterschiedlich gewachsenen geopolitischen Konstellationen. Sie sind geprägt von sozialpolitischen Spannungsverhältnissen, auf Grund derer sich die Transformationsprozesse signifikant anders gestaltet haben. Im Fall von Tallinn konzentrierten wir uns auf die Auswirkungen des Rhythmus der riesigen Fährschiffe auf die Hafenstadt, in Bulgarien auf die Transformationen des Netzwerks des einst verstaatlichten und für transnationalen LKW-Verkehr zuständigen Monopolunternehmens SO MAT.

Im Oktober 2015 gelang es, eine Installation im öffentlichen Raum vor dem Hauptzugang zum Fährhafen in Tallinn zu realisieren, die nicht nur unsere Zwischen-Recherchen abbildete, sondern auch unterschiedliche, oftmals unterrepräsentierte Wissenssorte generierte. Im Dezember 2015 organisierten wir einen großen Workshop in Wien – mit Busexkursion vom Vienna International Busterminal zum Österreichisch-Ungarischen Grenzübergang, der kurz zuvor einen bedeutenden Schauplatz der Flüchtlingswelle bildete. Im April 2016 konnten wir im ehemaligen Hauptquartier von SO MAT in Sofia einen Workshop und eine Ausstellung organisieren, um die Zirkulation von Wissensformen über die Präsentation des Forschungs(be-)standes der Bulgarischen Case Study zu testen.

Im Oktober 2016 präsentierten wir mit der Ausstellung Road*Registers. Aufzeichnungen mobiler Lebenswelten (Stewart 2014)star (*7) einen Zwischenbericht in Form einer großen Kunstausstellung in der Akademie der Bildenden Künste in Wien, die unsere Erkenntnisse direkt an die Bildungseinrichtung zurück spiegelte.

Publikationen im Rahmen des Projektes

Als ersten umfangreicheren verschriftlichten Zwischenbericht des Projektes hatten wir im April 2016 als Gastredakteure das Schwerpunktheft Korridore der Mobilität – Knoten. Akteure. Netzwerke für dérive – Zeitschrift für Stadtforschung No.63/2017 konzipiert. In der Ausstellung Unschärfen und weiße Flecken. Kartografische Annäherung an urbane Räume von 7.04. bis 11.06.2017 im Kunsthaus Mürzzuschlag präsentierten wir erstmals eine animierte Grafik Novel.

Im Juni 2017 erschien der Katalog zur Ausstellung Road*Registers. Im Oktober 2017 erscheint eine umfangreiche Präsentation in JAR Journal for Artistic Research Issue 14. Und im Frühjahr 2018 wird ein abschließender Text-Band mit einer Sammlung selbst erstellter Karten in der Schriftenreihe der Akademie der bildenden Künste Wien bei Sternberg Press Berlin erscheinen.

 

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Augè, Marc (1995): Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity. New York: Verso Books.

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Bittner, Regina, Wilfried Hackenbroich and Kai Vöckler (Hg.) (2006): Transiträume: Transit Spaces. Edition Bauhaus, Vol.19. Berlin: Jovis.

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Büscher, Monika and John Urry (2009): Mobile Methods and the Empirical. In: European Journal of Social Theory, Feb. 2009, 12, 99–116.

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Groß, Angelique (2015): Die Bildpädagogik Otto Neuraths. Methodische Prinzipien der Darstellung von Wissen. Heidelberg: Springer.

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Reijndorp, Arnold (2009): Roots, Routes and Routines. Transnational Familiarity and Local Discontent. In: Rieniets, Tim / Sigler, Jennifer / Christiaanse, Kees (Hg.): Open City. Designing Coexistence. Amsterdam: Sun.

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Roberts, Les (ed.) (2016): Deep Mapping and Spatial Anthropology, Humanities 2016, 5, 5; doi:10.3390/h5010005

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Stewart, Kathleen (2014): Road Registers. In: Cultural Geographies 21, 4: S.549–563; insbes.: 552.

Michael Zinganel, Michael Hieslmair ( 2017): Stop and Go. Nodes of Transformation and Transition. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/stop-and-go-nodes-of-transformation-and-transition/