Graphic Novel. Zur Popularisierung eines neuen Begriffs

Ein Wissenschaftslogbuch

Experimentierräume ermöglichen Begegnungen, konkret und metaphorisch. Das vorliegende Wissenschaftslogbuch versteht sich als derartiger Experimentierraum für eine Begegnung zwischen der Perspektive der Literaturwissenschaft und jener der Comic Studies.

Graphic Novel und Autor_innenbild (15.3.2017)

Die letzten Jahre verzeichnen nicht nur in Buchhandlungen und im Feuilleton, sondern beispielsweise auch in Literaturhäusern ein steigendes Interesse für jenen Teil der Comicproduktion, der als ‚Graphic Novel‘ betitelt wird; davon zeugen die seit 2012 jährlich veranstalteten Hamburger Graphic-Novel-Tage ebenso wie der 2017 erstmals vom Freien Deutschen Autorenverband Thüringen vergebene Graphic-Novel-Preis oder die steigende Anzahl von auf Graphic Novels spezialisierten Verlagen (z.B. Reprodukt, avant-Verlag, Edition Moderne, Carlsen). So erfreulich dieses Interesse ist – traditionelle Instanzen der Literaturvermittlung und -distribution öffnen sich für weitere ästhetische Ausdrucksformen –, so sehr lohnt sich eine Betrachtung einiger Implikationen dieses Interesses für den Comic im Allgemeinen. Wir fragen nach Gründen für die neue Etikettierung der tradierten Kunstform der Comics als ‚Graphic Novels‘: Handelt es sich hierbei um einen neuen Begriff für bereits Bestehendes, oder bezeichnet der neu eingeführte Begriff ‚Graphic Novel‘ ein neues Genre?*1 *(1)

Um die Tragfähigkeit eines Begriffs zu befragen, lohnt sich in der Regel ein Blick auf seine Wurzeln: Die erste breitenwirksame Etikettierung eines Comics als ‚Graphic Novel‘ nahm Will Eisner mit A Contract with God (1978) vor*2 *(2), das aus vier Kurzgeschichten besteht und damit streng genommen nicht als ‚Novel‘ bezeichnet werden kann, wenn man eine in der Literatur(wissenschaft) übliche Definition auf den Comic überträgt. Der US-amerikanische Comicautor Eisner, der ab den 1940er-Jahren Comics veröffentlichte, versuchte damit, eine unterschiedliche, als Neuerung erkennbare Herangehensweise an Bild-Text-Narrationen begrifflich zu fassen: Eisner verstand Graphic Novels als Erzählungen in Comicform, welche sich durch ihr Format (Höhe, Breite, etc.), ihre Länge, ernste Themen („worthwile themes“, Eisner 1985: 141)star (*9) und ein neues Zielpublikum (Erwachsene) von Comics unterscheiden. Eisner entwirft eine neuartige Konzeption künstlerisch anspruchsvollen Schreibens, welches bestehende Konventionen im (amerikanischen) Comic hinterfragt. Außerhalb der Comic-Community sowie der Forschung stieß Eisners neue Etikettierung übrigens anfänglich auf scheinbar geringes Interesse (vgl. Baetens 2011: 1141),star (*1) erst Art Spiegelmans Maus (1986/1991) verhilft der Graphic Novel zu einer gewissen öffentlichen Sichtbarkeit (vgl. Baetens 2011: 1141).star (*1)

Eine weitere Forderung, die Eisner ins Feld führt, stellt eine mediengeschichtliche Verbindung zwischen der Konzeption von Autorencomics und der Entwicklung der Graphic Novel dar: In Comics and Sequential Art (1985)star (*9) präsentiert Eisner in Comicform unterschiedliche Methoden und Prinzipien des Zeichnens von Comics sowie auch theoretische Überlegungen zu Ästhetiken des Comics (die Neuauflage von 1990 ist erweitert um kürzere Passagen zur Verwendung von Computern sowie zu Druckverfahren). Außerdem plädiert er dafür, dass „the writer and the artist […] one person“ (Eisner 1985: 132)star (*9) sein sollen – dies ist auch ein Charakteristikum von Autorencomics: Ähnlich wie das Label des ‚Autorenfilms‘ verweist es auf ein Comic aus einer Hand, vom Entwurf des Handlungsstrangs über die Erstellung des Textes sowie die Konzeption und künstlerische Realisierung der Bilder. Eisners Plädoyer für eine Personalunion von Zeichner_in und Szenarist_in setzt er selbst in A Contract with God um, denn Text und Bild stammen in allen vier Kurzgeschichten von ihm selbst. Aus der Verbindung mit dem Untertitel ‚Graphic Novel‘ resultiert also eine programmatische Forderung einer Personalunion für dieses Genre.

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Baetens, Jan (2011): Graphic novels. In: Cambridge Histories Online, Cambridge University Press. Online unter: https://doi.org/10.1017/CHOL9780521899079.075(23.03. 2017)

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Zymner, Rüdiger (2010): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: Metzler.

Zu einer sozioanalytischen Perspektivierung des Begriffs ‚Graphic Novel‘ sowie zu Prozessen der Autonomisierung innerhalb des Feldes der Comicproduktion siehe Becker 2010.

Die von Richard Kyle bereits 1964 vorgenommene Verwendung des Begriffs war Eisner nicht bekannt. (Groensteen 2012)

Es gibt keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Aspekt; diese Schätzung basiert auf Beobachtungen und Erfahrungsberichten von österreichischen Comicschaffenden.

Ein zeitgenössisches Beispiel ist jener Teil der japanischen Manga-Produktion, den Leser_innen unter anderem am Morgen in der U-Bahn am Weg zur Arbeit lesen und anschließend entsorgen – ähnlich wie im Falle von kostenlosen U-Bahn-Zeitungen hierzulande.

Die humoristischen Comics aus dem Umfeld der  Revue Spirou bzw. der sogenannten Marcinelle-Schule werden oftmals als ‚Comics mit großen Nasen‘ bezeichnet. Die Comicrevue Journal de Tintin, welche sich in Konkurrenz zu Spirou befand und vornehmlich Comics von Hergé und Edgar P. Jacobs veröffentlichte, setzte hingegen auf einen ernsteren, ‚literarischen‘ Ton (Delisle 2007: 131).

Bettina Egger, Johanna Öttl ( 2017): Graphic Novel. Zur Popularisierung eines neuen Begriffs. Ein Wissenschaftslogbuch. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/graphic-novel-zur-popularisierung-eines-neuen-begriffs/