Die ‚Night School‘ bei den Wiener Festwochen 2017

Raum für Verhandlung und Produktion dekolonialisierten Wissens und Denkens in ‚weißen‘ Kontexten

Zwischen März und Juni 2017 fand in Wien im Rahmen der Akademie des Verlernens der Wiener Festwochen ein ungewöhnliches Projekt statt. Marissa Lôbo und Catrin Seefranz initiierten die Night School 2017 und beschreiben ihr Vorhaben folgendermaßen:

„Die Night School ist eine experimentelle Abendschule, in der von minoritären und marginalisierten, rebellischen und verletzlichen Positionen aus gedacht, gelehrt und gelernt wird.“ (Lôbo/Seefranz 2017)star (*7)

Dieser Text basiert auf der Teilnahme der Autorin an dem experimentellen Format der Night School im Frühjahr 2017 und soll zum einen Einblicke in Vorträge und Diskussionen geben, zum anderen aber auch persönliche Eindrücke anekdotenhaft vermitteln.

Wöchentlich kamen Personen aus unterschiedlichsten Kontexten (Interessierte, KünstlerInnen, Studierende, AktivistInnen) in den klassischen, europäisch-barocken Räumlichkeiten des Wiener Volkskundemuseums zusammen, um gemeinsam zu versuchen, Aspekte jenes Wissens zu verlernen, das wir – sowohl als TeilnehmerInnen der Night School als auch als Mitglieder einer gemeinsamen Gesellschaft – auf intransparent gewaltvolle Art und Weise ‚gelehrt‘ wurden. Dies können Gewissheiten, Übereinkünfte, Machtverhältnisse, Glaubenssätze oder Privilegien sein (vgl. Lôbo/Seefranz 2017).star (*7)

Wessen Wissen gilt als ‚Wissen‘? Wessen Kunst gilt als ‚Kunst‘? Wessen Wissen und Kunst wird von etablierten Institutionen als Selbstverständlichkeit bzw. ‚Normalität‘ erachtet? Wer hat in diesen Institutionen Entscheidungsmacht oder Deutungshoheit? Wer profitiert von diesen Entscheidungen und Deutungen? Wie haben sich diese Strukturen etabliert? Welche Werkzeuge und Strategien braucht es, um an ihnen zu rütteln? Dies waren fundamentale Fragen, die aufgeworfen und diskutiert wurden.

„Diese kleine Schule öffnet jede Woche ihre Türen, um sich in hegemoniale Wissensregime einzumischen. Auf dem Lehrplan stehen Formen, Körper, Methoden, Standpunkte, Geographien und Fantasien, die zu dem beitragen können, was man Dekolonisierung von Wissen und Lernen, vielleicht auch Popular Education und hoffentlich Pedagogies of Possibility nennen kann. Also Bildung, die gegen das Mantra der Alternativlosigkeit auf dem Möglichen besteht.“ (Lôbo/Seefranz 2017)star (*7)

Am Anfang jeder Einheit wurden mit Hilfe von Freiwilligen aus dem Lehrgang Gerichte wie etwa aus Brasilien oder Äthiopien zubereitet. Diese Gericht wurden zu Beginn der Einheit gemeinsam verzehrt – ein für Marissa Lôbo zentraler kollektiver Akt, denn: „Kochen ist eine Form von Wissen“, so Lôbo.

Obwohl es wichtig ist, Räume für das gemeinsame, grundsätzlich respektvolle und wertschätzende Nachdenken und Sprechen über Machtmechanismen zu schaffen, sollte die Night School keineswegs ein konfliktfreier Raum sein:

„There is no such thing as a safe space“, so Stephanie Misa, eine Künstlerin aus dem Team der Night School. „We give chance for conflict, but these conflicts do not have to be destructive. If somebody asks you where you are from, tell them why this is offensive. Do not let it get in the way of the conversation!“

Und tatsächlich war die Night School auch ein Raum für Konflikte. Eine weiße*1 *(1) Studentin forderte beispielsweise in der zweiten Sitzung nach einer Diskussion über Alltagsrassismus und -diskriminierung eine Moderation, da sie das Gefühl hatte, im Gegensatz zu einer Schwarzen*2 *(2) Künstlerin und Aktivistin nicht genug Raum zu bekommen. Diese Forderung nach Kontrolle des Sprechraums verweist genau auf jene Machtmechanismen, die im Rahmen der Night School dekonstruiert werden sollen. Daher bezeichnete die Künstlerin, die durch Moderation in ihre Schranken verwiesen werden sollte, diese Situation als Gewalt, die sie an ihrem Körper spürt, wie verschiedene Formen der täglichen Gewalt an Schwarzen Individuen. Die Person, die die Moderation gefordert hatte, war entrüstet.

Weiße Personen, oder BewohnerInnen von „Happyland“, wie Tupoka Ogette (2017: 21)star (*10) den Zustand weißer Personen bezeichnet, die sich noch nicht aktiv und bewusst mit Rassismus beschäftigt haben, reagieren besonders entrüstet, wenn sie des Rassismus bezichtigt werden. Ogette (ebd.)star (*10) erläutert, dass in „Happyland“  Rassismus das Vergehen der Anderen und etwas ‚Grundschlechtes‘ ist, verübt durch NPD, AfD, Hitler oder den Ku-Klux-Klan. Daher könne des Rassismus nur bezichtigt werden, wer vollen Bewusstseins und vorsätzlich beschließe, eine rassistische Handlung auszuüben. Und unabhängig davon, ob die Handlung vorsätzlich sei oder nicht, trage die verursachende Person keinerlei Verantwortung für die Wirkung einer Handlung, da die Wirkung dementsprechend nur im Auge des Betrachters liege (ebd).star (*10) Aus diesem Grund reagieren HappyländerInnen auf die geringste Andeutung, dass etwas an ihrem Verhalten rassistisch sein könnte, wütend und defensiv. „Denn einen Rassismusvorwurf zu erhalten“, so Ogette (2017: 22)star (*10) „ist immer schlimmer und emotional schwerwiegender, als das, was die fragliche Situation oder der fragliche Spruch ausgelöst hat. Deshalb macht man sich in Happyland auch vielmehr Sorgen darüber, rassistisch genannt zu werden, als sich tatsächlich mit Rassismus und dessen Wirkungsweisen zu beschäftigen.“ (ebd.)star (*10) Den Mechanismus, auf einen Rassismusvorwurf empört zu reagieren und die Person zu bestrafen, die Rassismus benannt hat, um sie einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen, nennt die kritische Weißseinsforscherin Robin DiAngelo „white fragility“ (DiAngelo 2015).star (*3)

Allgemein stellen Lôbo und Seefranz allerdings eines klar:

„Der Plan der Night School, ganz auf minoritäre und marginalisierte Standpunkte zu setzen, bedeutet nicht, diese zu idealisieren. Es heißt genauso wenig unterdrücktes Wissen zu romantisieren und herrschendes zu ignorieren. Jedes Wissen muss genau kritisch überprüft und weiterentwickelt werden.“

Einblicke in ausgewählte Sitzungen

In der Sitzung vom 24. April 2017 waren TeilnehmerInnen der Refugee-Protest-Bewegung in Wien eingeladen. Geflüchtete sind eine Gruppe von Personen, denen Bildung notorisch abgesprochen, verweigert oder sobald sie Papiere haben, auch aufgezwungen wird (Lôbo /Seefranz 2017a)star (*8) – umso notwendiger sind Räume für selbstbestimmtes Lehren und Lernen durch Geflüchtete/Refugees. Thematisiert wurde die Dynamik der Bewegung, sowie der Einfluss weißer UnterstützerInnen während des Prozesses. Eine der TeilnehmerInnen stellte dabei fest, dass das Hauptinteresse weißer UnterstützerInnen darin lag, ihre eigenen Karrieren zu fördern. „White supporters!“ forderte sie, „Respect us! Do not come to us and tell us: ‚We want to help you‘, if you are just going to tell us what to do.“ Hintergrund dieser Forderung war die Erfahrung, dass geflüchteten Personen durch UnterstützerInnen die Fähigkeit abgesprochen wurde, ihren eigenen Protest auf ihre eigene Art und Weise zu gestalten. Diese immerwährende Belehrung und der Widerstand dagegen kostete die Protestierenden zusätzliche Ressourcen. Das heißt konkret, dass sie sich zusätzlich zu den repressiven Instrumenten des Staates auch gegen die Bevormundung durch UnterstützerInnen wehren mussten. Sie sagte des Weiteren, dass die meisten UnterstützerInnen kein Interesse daran hätten, dass sich Strukturen für geflüchtete Personen nachhaltig verbessern, da dies das Ende dessen bedeutet, was als ‚Charity-Industrie‘ bezeichnet werden kann: Durch diese ‚Charity-Industrie‘ könne mensch sich nämlich „mit einem bestimmten Beitrag aus der Verantwortung herauskaufen und sich dadurch als ‚besserer Mensch‘ konstruieren“, erklärte die Gruppe. Eines der Hauptprobleme dieser Dynamik liegt darin, dass den meisten weißen UnterstützerInnen ihre paternalistische und damit repressive Haltung nicht bewusst ist bzw. innerhalb der vorhandenen gesellschaftlichen Machtstrukturen nicht bewusst gemacht wird. Hindernisse für diese Bewusstmachung sind einerseits die fehlende (u.a. mediale) Einräumung von Sprechpositionen für marginalisierte Personengruppen und andererseits die oben bereits angeführte ‚white fragility‘.

Besonders tiefe Impressionen hinterließ die Sitzung mit Autorin und Performerin Michelle Mattiuzzi, die Schwarze Performancekunst demonstrierte und dabei ‚Projektile der Dekolonisierung‘ losschickte. Sie schlägt eine „Guerilla der Kenntnisse vor, um verschüttete Erinnerungen und uralte Kenntnisse wiederzubeleben, um Dissens in den kolonial markierten Körpern zu erzeugen.“ (Lôbo/Seefranz 2017a)star (*8)

Wir stehen im imperial barocken Garten des Wiener Volkskundemuseums rund um eine große schwarze Plane, auf der sich ein Kübel weißer Wandfarbe, ein Drehstuhl und ein Paar Stöckelschuhe befinden. Neben diesen Objekten steht eine Frau. Sie steht still. Sie demonstriert einen Schwarzen nackten Körper. Eine Maske verdeckt ihren Mund. Langsam, Schritt für Schritt, mit erhobenen Händen umrundet sie die Plane. Sie wiederholt dies. Sie nähert sich der Mitte. Sie taucht ihre Hände in die weiße Farbe ein. Erhebt die Hände. Zeigt ihre weißen Hände, indem sie wieder, mit schwerem Schritt, eine Runde dreht. Nach und nach, eindrücklich, färbt sie einen Körperteil nach dem anderen weiß.

Allmählich ist sie am ganzen Körper weiß. Sie zieht die hochhackigen Schuhe an. Vorsichtig steigt sie auf den wackeligen Drehstuhl, der knackst. Ein Gefühl der Sorge macht sich unter den TeilnehmerInnen breit.

Auf dem Drehstuhl mit hohen Schuhen stehend, dreht sie ihn. Danach kniet sie sich auf den instabil wirkenden Stuhl. Sie greift zu ihrer Vulva, und zieht eine lange Perlenkette aus ihrem Körper. Diese wirft sie auf den Boden. Hinter ihr befindet sich ein kleines Waschbecken an der Wand. Sie steigt vom Drehstuhl ab, geht zum Waschbecken und wäscht den Großteil von der weißen Farbe ab. Jetzt hat es leicht zu regnen begonnen. Es ist still. Nur der Wind, der leichte Regen und das Geräusch des Wassers sind zu hören.

Gegenüber des Waschbeckens steht ein großer Baum, an dem ein weißes Kleid hängt. Die Künstlerin geht auf dieses Kleid zu und zieht es an. Sie steht einige Zeit ruhig vor uns.

Langsam nimmt sie die Maske ab, die bisher ihren Mund bedeckt hatte. Wir sehen, dass ihre Lippen mit langen Nadeln zusammengesteckt sind. Sie zieht eine Nadel heraus. Blut ist zu sehen. Es tropft auf ihr weißes Kleid. Sie wiederholt diesen Vorgang einige Male, bis alle Nadeln entfernt sind. Das Kleid ist mittlerweile mit Blut getränkt, erneut herabfallende Blutstropfen perlen teilweise ab.

Sie verlässt uns.

Nach der Performance mit dem Titel Merci Beaucoup, Blanco! erklärt sie, dass sie damit den täglichen Schmerz ausdrücken will, den sie aufgrund der Zuschreibungen an ihren markierten Körper verspürt. „I play with the narratives of white people and the question of colonial desires“, so Mattiuzzi. Innerhalb der weißen Kunstszene wiederum ist sie inkludiert, weil sie exkludiert ist: „My body is a black body in the world of white people.“

Im Interview mit der Vasli Souza Gallery in Malmö erklärt Mattiuzzi, dass diese Performance ein work-in-progress ist und dass sie bei jeder Präsentation dieser Arbeit etwas ändert (Mattiuzzi 2013).star (*9) „Being Black itself makes you either an exotic or a marginalized body“, erklärt sie (ebd.).star (*9) Da Nacktheit immer noch ein Problem für die Gesellschaft sei und Menschen diese fürchten, wolle sie mit ihrem nackten Körper ein Schamgefühl im Publikum produzieren bzw. provozieren.

In der Sitzung vom 29. Mai 2017 widmeten sich Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela dem Konzept des Verlernens, das in Wechselwirkung mit den Kategorien Wissen, Macht und Lernen steht. In diesem Zusammenhang thematisierten sie auch das ambivalente Verhältnis zwischen postkolonialer Theorie und Aufklärung.

 

Postkoloniale Wissensproduktion bzw. die Politik der Gegenhegemonie, so Dhawan und Castro Varela, wird als eine Ablehnung der Aufklärung gedeutet. Hinzu kommt, dass Postkolonialismus unter Kritik steht, da er sich an Konzepten der Aufklärung bedient.

Spivak hat eine Analogie hergestellt, die den Zusammenhang zwischen den problematischen Methoden der Aufklärung und ihren positiven Ergebnissen bildlich erklärt – als Kind, das einer Vergewaltigung entspringt („Child of rape“), stellt sie fest (vgl. z.B. Spivak 2015).star (*11) Ein positives Ergebnis kann die Gewalt nicht rechtfertigen, die Gewalt muss als Gewalt benannt werden. Ogette (2017: 38)star (*10) nennt die Aufklärung ein „furchtbar zweischneidiges Schwert“. Sie zitiert Kants Feststellung: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die N[…] sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften. (…) Die N[…] von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.“ (ebd.)star (*10) Daran anschließend stellt Ogette fest, dass die Aufklärung zwar das Rüstzeug für die politische und soziale Gleichberechtigung liefert, allerdings gleichzeitig Menschen lediglich als eine Variante des Tierischen sieht.

„Man kann nicht direkt ,Ja‘ zum System sagen“, meinte Dhawan. „Es ist eher ein kompliziertes ‚Ja‘“. „Es gibt kein unkontaminiertes Wissen, denn Kolonialismus ist gleichzeitig sowohl die Zerstörung von Wissen als auch die Aneignung desselben.“ Sehr viel Wissen wurde während des Kolonialismus angeeignet, in Europa zu Theorien geformt, und dann wiederum in die Welt exportiert. Dhawan erklärte in diesem Zusammenhang, dass unserer heutigen Gesellschaft viel Wissen durch Priester zugänglich gemacht wurde. Demnach weisen lateinamerikanische Linguist*innen heute noch darauf hin, dass sie ohne Jesuiten keinen Zugang zu indigenen Sprachen hätten finden können.

Diese Tradition der Wissensaneignung und Formung durch weiße WissenschafterInnen ist noch heute als Kontinuität des Kolonialismus zu erkennen, nämlich in der Frage, wer wen als legitimes Subjekt der Wissensproduktion anerkennt.

Fatima El-Tayeb (2016: 20f.)star (*4) liefert zu diesem Thema ein Beispiel. In ihrem Buch Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft berichtet sie von einer Diskussionsveranstaltung zur Geschichte des Rassenbegriffs in Deutschland, zu der sie als Diskutantin eingeladen war. Als sie allerdings die Liste der eingeladenen WissenschafterInnen sah, ließ ihr Enthusiasmus schlagartig nach: Es waren fast nur weiße, männliche Personen.

Sie schrieb den VeranstalterInnen eine Mail, in der sie sich für die Einladung bedankte, doch darauf hinwies,

  • dass eine produktive Veranstaltung zu Rasse und Rassismus „mit einer nahezu ausschließlich weißen Besetzung nicht stattfinden kann“,
  • dass es ihr „weniger darum geht, wer vertreten ist, als wer nicht vertreten ist, nämlich die zahlreichen ForscherInnen und AktivistInnen aus rassifizierten Gruppen, die wichtige Arbeiten zu diesem Thema leisten“,
  • dass ein „farbenblinder“ Ansatz, der „die durch rassistische Strukturen produzierten Ausschlüsse und Hierarchien ignoriert, methodisch, pädagogisch und politisch dazu verdammt ist, sie zu reproduzieren“,
  • dass „Intersektionalität ein theoretisches Konzept ist, das nicht zufällig von Schwarzen feministischen Autorinnen entwickelt wurde, um genau die weißen Flecken zu untersuchen, die entstehen, wenn Theorie entpositionalisiert wird und eine Universalisierung der dominanten Position stattfindet, d.h. meist die Verallgemeinerung weißer, männlicher Erfahrung“,
  • dass eine produktive Debatte mehr als die dominante Position und Gruppe repräsentieren muss, was eine kritische Masse an „Anderen“ voraussetzt
    und
  • dass Letzteres umso notwendiger ist, „da der Ausschluss von rassifizierten WissenschafterInnen aus der Debatte um Rasse, Rassismus, Kolonialismus etc. alles andere als ein Einzelfall ist und deswegen als systemisch und systematisch begriffen und adressiert werden muss.“ (Fatima El-Tayeb (2016: 21)star (*4)

Die kurze Antwort war, dass es bei der Konferenz um die wissenschaftliche, nicht die politische Aufarbeitung des Rasse-Begriffs gehe, und dass man sonst natürlich InteressensvertreterInnen betroffener Gruppen eingeladen hätte. Diese Aussage suggeriert einerseits, dass rassifizierte Personen keine Analyse liefern können, sondern lediglich ‚Betroffenheit‘, und andererseits, dass weiße, heteronormative Wissenschaft nicht politisch oder subjektiv sei (El-Tayeb 2016: 22).star (*4)

Grada Kilomba beschreibt diesen Zusammenhang folgendermaßen:
„Wenn sie sprechen, ist es wissenschaftlich. Wenn wir sprechen, ist es unwissenschaftlich.
Wenn sie sprechen, ist es universell. Wenn wir sprechen, ist es spezifisch.
Wenn sie sprechen, ist es neutral. Wenn wir sprechen, ist es persönlich.
Wenn sie sprechen, ist es rational. Wenn wir sprechen, ist es emotional.
Wenn sie sprechen, ist es unparteiisch. Wenn wir sprechen, ist es parteiisch.
Sie haben Fakten. Wir haben Meinungen.
Sie haben Wissen. Wir haben Erfahrungen.“ (Kilomba 2008: 26)star (*5)

Kilomba (ebd.)star (*5) fügt hinzu, dass dies nicht einfache semantische Kategorisierungen sind, sondern eine Dimension von Macht besitzen, die Hierarchien intakt hält und weißer Vorherrschaft („white supremacy“) zuarbeitet. Zusammenfassend schreibt El-Tayeb (2016: 23), dass die Arbeit rassifizierter WissenschafterInnen als Rohmaterial behandelt wird, das durch weiße WissenschafterInnen in eine akzeptable Form gebracht werden muss.

Mit der Frage, wer ein legitimes Subjekt der Wissensproduktion ist, stellt sich auch die weitere Frage, welche Subjekte überhaupt hergestellt werden. Dhawan erläuterte Edward Saids Beschreibung der Dynamik zwischen Macht und Wissen, die an Michel Foucault angelehnt ist. Demnach brauchen wir eine bestimmte Macht, um Wissen zu produzieren, was uns wiederum Macht gibt. Diese Wechselwirkung stellt Herrschaft her und sichert sie zugleich ab (Lôbo /Seefranz 2017).star (*7)

Warum also Schule?

Lernen bzw. Bildung als ein Prozess der Subjektformation (in den potenziell eingegriffen werden kann) ist daher ebenso durch Machtverhältnisse strukturiert und gesteuert. Nach Spivak ist jede Art von Bildung gewaltvoll, doch es geht darum, die Gewalt möglichst transparent und möglichst gering zu halten (vgl. z.B. Castro Varela 2007).star (*2)

Aufgrund all dieser Zusammenhänge und Mechanismen ist das Verlernen relevant. Verlernen ist etwas Aktives; eine intellektuelle Leistung, im Zuge dessen mensch die oben angeführten Zusammenhänge erkennt und aktiv an der Dekonstruktion derselben arbeitet. Verlernen ist keine Selbstzensur. Verlernen ist auch nicht vergessen. Es ist viel komplizierter: Verlernen ist eine Intervention in den Prozess der Subjektformation. „Privilegierte müssen ihre Privilegien als Verlust lernen“, erklärte Dhawan nach Spivak (‚Learning privilege as a loss‘). Der Schlüssel ist, Komplexitäten anzuerkennen und vor allem zu verstehen. Denn Dogmatismus und Gewalt entstehen, wenn Zusammenhängen Komplexitäten verwehrt werden. „Veränderung funktioniert nur, wenn man Komplexität versteht“, erläuterte Dhawan.

Daher schreiben Lôbo und Seefranz (2017)star (*7) im Konzept der Night School: „Trotz alledem, die Night School setzt auf die Schule“ und zitieren bell hooks: „The classroom remains the most radical space of possibility.“

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Arndt, Susan/Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Piesche,Peggy (Hg.) (2009): Mythen, Masken, Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: unrast.

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Castro Varela, María do Mar (2007): Verlernen und die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns. Bildung und Postkoloniale Kritik. In: Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, o. Jg., H. 3,  S. 4-7

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DiAngelo, Robin (2015): White Fragility: Why It’s So Hard to Talk to White People About Racism. Online unter https://goodmenproject.com/featured-content/white-fragility-why-its-so-hard-to-talk-to-white-people-about-racism-twlm/ (30.07.2017)

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El-Tayeb, Fatima (2016): Undeutsch: Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

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Kilomba, Grada (2008): Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism. Münster: unrast.

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Kuria, Emily Ngubia (2015): Eingeschrieben. Zeichen setzen gegen Rassismus an deutschen Hochschulen. Berlin: w_orten & Meer.

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Lôbo, Marissa/Seefranz, Catrin (2017): Idee. Online unter http://www.nightschool.at/de/concept/ (02.08.2017)

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Lôbo, Marissa/Catrin Seefranz (2017a): Lehrplan. Online unter http://www.nightschool.at/de/lehrplan/ (02.08.2017)

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Mattiuzzi, Michelle (2013): Vasli Souza Interview Michelle Mattiuzzi (Brazilian Performer). Online unter https://www.youtube.com/watch?v=-IYnXBt8ZaE(18.08.2017)

 

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Ogette, Tupoka (2017): Exit Racism. Rassismuskritisch Denken lernen. Münster: unrast.

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Spivak, Gayatri Chakravorty (2015): Crimes of Identity. In: Duschinsky, Robbie/Walker, Susan (2015) (Hg.): Juliet Mitchell and the Lateral Axis. Twenty-First-Century Psychoanalysis and Feminism. New York: Palgrave Macmillan. S. 206-227.

Emily Ngubia Kuria (2015: 22) beschreibt nach Eggers, Kilomba, Piesche & Arndt (2005: 13), dass weiß, klein und kursiv geschrieben, nicht eine Identität beschreibt. Vielmehr ist es ein von Schwarzen TheoretikerInnen entwickelter analytischer Begriff, „um die Architektur weißer Dominanz- und Machtverhältnisse sowie die damit verknüpfte Ausübung rassistischer Systeme und Praktiken zu beschreiben.“ (ebd.)

„Schwarz“ mit einem großen S. geschrieben, so Kuria (2015: 12), ist eine Selbstbezeichnung von Schwarzen Menschen. Sie soll als Akt des Widerstands die von rassistischen Terminologien behaftete Identität von Schwarzen Personen zurückfordern.

Dilara Akarçeşme ( 2017): Die ‚Night School‘ bei den Wiener Festwochen 2017. Raum für Verhandlung und Produktion dekolonialisierten Wissens und Denkens in ‚weißen‘ Kontexten. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/die-night-school-bei-den-wiener-festwochen-2017/