Ansichtssache

Ein Tag auf der dOCUMENTA (13)

Donnerstag, 9. September 15.37 Uhr: Hauptbahnhof – Nordflügel, Scheinwerferlicht
Mit geschärftem Blick setze ich meine Entdeckungsreise durch den Nordflügel fort, bis ich zu einem im Verborgenen liegenden Eingangstor gelange. Eine Entdeckung, die jedoch bereits viele BesucherInnen vor mir gemacht haben, und so stehe ich in einer längeren Warteschlange. Immerhin gilt es zu ergründen, was sich hinter diesem Tor verbirgt.

Donnerstag, 9. September 15.48 Uhr: Hauptbahnhof – Nordflügel, noch immer in der Warteschlange, Sonnenstrahlen scheinen durch die alten Fabrikfenster
Das Einlassprinzip erfolgt schubweise und wird von zwei Frauen des unüberblickbar großen dOCUMENTA-Personals geregelt. Während des Wartens versuche ich mich mithilfe des Plans etwas zu orientieren und meine weitere Tour vorzubereiten. Dicht an dicht gedrängt komme ich nicht umhin, dem Gespräch des deutschen Pärchens vor mir zu lauschen und empfinde Verständnis für die ungeduldigen Blicke der italienischen Kleinfamilie hinter mir.

Donnerstag, 9. September 15.54 Uhr: Hauptbahnhof – Nordflügel, hinter dem Tor, Dunkelheit
Schließlich ist es so weit: Ich betrete einen dunklen, quadratischen Raum, dessen einzige Ausstattung eine Holzfigur und einige Sessel sind. Als sich der Raum mit Menschen füllt, startet die Multimedia-Installation: Ein Schwarzweißfilm wird zeitversetzt auf alle vier Wände projiziert. Elemente der afrikanisch-kolonialistischen Vergangenheit mischen sich mit physikalischen und astronomischen Experimenten. In William Kentridges Performance Die Ablehnung der Zeit werden marginale Abänderungen und Verschiebungen erkennbar, die wiederum die Zeitachse aufzubrechen scheinen und diese, vom Menschen geschaffene Maßeinheit, in Frage stellen.

Donnerstag, 9. September 16.15 Uhr: Hauptbahnhof-Gelände, stark bewölkt
Ich setze meine Exkursion fort und finde mich im Südflügel wieder.

Donnerstag, 9. September 16.42 Uhr: Südflügel, bewölkt
Schauplatz Indien. Erneut werden zwei Filme in einem Raum an gegenüberliegenden Wänden abgespielt. Die Installation Between the Waves von Tejal Shah zeigt menschliche Einhörner; „reine“ Lebewesen, die allerdings aus den riesigen Müllhalden, die sie zu ihrem Lebensumfeld auserkoren haben, auferstanden zu sein scheinen. Sie bewegen sich auf Müll, tanzen darauf, schmücken sich damit; daneben werden historische, spirituelle und wissenschaftliche Diskurse eröffnet, die ebenso unbeantwortet stehen bleiben.

Donnerstag, 9. September, 17.23 Uhr: Hauptbahnhof – Gelände, Sonnenstrahlen ringen sich durch die Wolkendecke
Ich bin hungrig. Auf dieses menschliche Bedürfnis ist das dOCUMENTA-Team selbstverständlich gut vorbereitet. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, sich am Gelände mit Köstlichkeiten aus biologischer Landwirtschaft zu stärken; beginnend mit vollständigen Menüs in Restaurants, untergebracht in Gewächshäusern, über kleine Snacks bis hin zu „Gemüse to go“ im Glas. Alles im Sinne einer Nachhaltigkeit und eines bewussten Lebens. Ich gönne mir ein Stück Mangold-Quiche – mhhhm lecker!

Donnerstag, 9. September, 18.02 Uhr: Kurfürstenstraße, Sonnenschein und Wolken wechseln ab
Gestärkt mache ich mich auf den Weg zum sogenannten „Kaskade“-Kino; eine venue abseits der Hauptschauplätze. Hier wartet eine Performance des zeitgenössischen Tänzers Jérôme Bel darauf, von mir entdeckt zu werden.

Donnerstag, 9. September, 18:16 Uhr: Kaskade-Kino, Dunkelheit
Tatsächlich bekomme ich erneut eine filmisch festgehaltene Performance präsentiert: Disabled Theater – 2 Dances. Dauer: acht Minuten. Zwei Solovorstellungen für Menschen mit Down-Syndrom. Zuerst tritt der selbstbewusste junge Mann auf die Bühne; er beginnt sich, zu technoiden Klängen zu bewegen. Sein Tanz intensiviert sich, wird dynamischer, vereint sich mit dem Beat; es macht den Anschein, als würde er sich in genussvoller Ekstase befinden und diese bis zum Äußersten treiben – dann verstummt die Musik. Es wirkt, als würde er in sich zusammenklappen; er ringt nach Luft; als er wieder bei Atem ist, bespricht er in subjektiven Worten die Zuschreibung Down-Syndrom und verlässt die Bühne. Mit seinem Abgang betritt eine junge Frau die Bühne und beginnt ihre Performance zu ABBA’s Dancing Queen.

Donnerstag, 9. September, 18:47 Uhr: Königsstraße, heiter wolkig
Nach einem Moment des Sammelns lotse ich mich anhand des Plans gedankenverloren zurück zu den Hauptschauplätzen; der Zufall führt mich jedoch zum Friedrichsplatz.

Donnerstag, 9. September, 18:52 Uhr: Occupy Friedrichsplatz – »Doccupy«, noch immer heiter wolkig
Nicht nur in den Straßen von New York, London oder Frankfurt wird gegen unser weltbestimmendes System, den Kapitalismus, in Form der Occupy-Bewegung protestiert, auch der Vorplatz des Museums Fridericianum, einer der bedeutenden Hauptschauplätze der dOCUMENTA, ist besetzt. Die Protestierenden präsentieren ihre kreativ-künstlerischen Erzeugnisse:

 

Donnerstag, 9. September, 19:18 Uhr: noch immer am Friedrichsplatz
Es ist bald 20.00 Uhr; die Ausstellungsorte schließen demnächst ihre Pforten – zumindest für heute. Gut so, denn meine Aufnahmefähigkeit strebt gegen Null. Ich lasse mich auf eine der Steinstufen am Friedrichsplatz nieder und genieße den Blick über das Gelände; tatsächlich muss ich schwermütig feststellen, dass mich die Welle dieser politisch-kritischen Botschaften in das offene Meer der dOCUMENTA (13) hinausgetragen hat und mich viele Fragen weiterhin beschäftigen werden.

Julia Jung ( 2012): Ansichtssache. Ein Tag auf der dOCUMENTA (13). In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 01 , https://www.p-art-icipate.net/ansichtssache/