1. Eine neue Ordnung des Sinnlichen
Ausgehend von Jaques Rancières (2008) (*3 ) Überlegungen zur „Aufteilung des Sinnlichen“ [= Le partage du sensibel] und den daraus abgeleiteten Bedingungen, die die Teilhabe an einer Gemeinschaft festlegen, befasst sich vorliegender Beitrag mit dem Gemeinschaftsgarten als Format kollektiver kultureller Praxis zwischen Kunst und Politik.
In den letzten zehn Jahren boomten Gartenprojekte in verschiedensten urbanen Räumen. Die Praxen sind auffällig vielfältig und reichen von Basisinitiativen und Kunstprojekten über kommunale Initiativen zur Nachbarschaftsförderung, interkulturelle oder umweltpolitische Projekte von NGOs bis hin zu Guerilla Gardening oder Moos-Graffitis. Dabei bedingen die jeweiligen Anknüpfungspunkte unterschiedliche Stoßrichtungen und produzieren jeweils spezifische Handlungsspielräume und Öffentlichkeiten. Das empirische Beispiel, das in diesem Beitrags analysiert wird, die Initiative „blattform: eine stadt – ein garten“ und ihre erste öffentliche Aktion, die „Aktion Sonnenblume“, ist eine städtische Basisinitiative. Urbanes Gärtnern als Aktionsform, gleich ob von BasisaktivistInnen initiiert oder von KünstlerInnen, trägt zu einer Neuordnung des Sinnlichen bei – so die hier vorangestellte Hypothese. Rancières Überlegungen folgend sind die Funktionen von Politik und Kunst hinsichtlich der Aufteilung und Neuordnung gemeinschaftlichen Handelns bis zu einem gewissen Grad auswechselbar.
Mit der Aufteilung des Sinnlichen bezeichnet Rancière einerseits die Strukturen und Spielregeln in einer Gesellschaft sowie andererseits die Gewohnheiten und Erfahrungen jedes Einzelnen, gelernt zu haben, wer wo wie im gesellschaftlichen Bezugsrahmen seine/ihre Stimme erheben darf und gehört wird bzw. eine Handlung setzen kann, die gesehen wird. In Rancières Theorie sind dabei Kunst und Politik keine voneinander getrennten Wirklichkeiten, sondern zwei Formen der Aufteilung des Sinnlichen. Die Frage „Was ist möglich und wie?“ wird laut Rancière gleichermaßen in Kunst und Politik gestellt:
„Kunst und Politik hängen miteinander als Formen des Dissenses zusammen, als Operationen der Neugestaltung der gemeinsamen Erfahrung des Sinnlichen. Es gibt eine Ästhetik der Politik in dem Sinn, als Akte politischer Subjektivierung das neu bestimmen, was sichtbar ist, was man sagen kann und welche Subjekte dazu fähig sind. Es gibt eine Politik der Ästhetik, in dem Sinn, dass neue Formen der Zirkulation von Wörtern, der Ausstellung des Sichtbaren und der Erzeugung von Affekten neue Fähigkeiten bestimmen, die mit der alten Konfiguration des Möglichen brechen.“ (Rancière 2008: 78) (* 3 )
In einer Zeit, in der zahlreiche künstlerische Praktiken im Bereich des politischen Eingreifens in den sozialen Raum operieren, agiert Rancières Theorie an dieser Schnittstelle von Kunst und Politik. Seine Theorie fungiert als (Orts-)Bestimmung darüber, „wie ein Gemeinsames sich der Teilhabe öffnet, und wie die einen und die anderen daran teilhaben“ (Ebda: 26). Dabei weist die Existenz eines Gemeinsamen gleichzeitig auf seine Unterteilung hin: „Eine Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben“ (Ebda: 25).
Laut Rancière macht die „Aufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren“ sichtbar „wer, je nach dem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, indem er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Betätigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist“ (Ebda: 27). Er versteht Politik als Dissens, der immer dann entstehe, wenn unterschiedliche Ordnungen der Aufteilung des Sinnlichen aufeinandertreffen und eine neue „Aufteilung des Sichtbaren und des Sagbaren – des sinnlich Wahrnehmbaren – innerhalb der Gesellschaft“ von bestimmten AkteurInnen angestrebt wird (Ebda: 9f.).
Rancière postuliert: „Es gibt überall Ausgangspunkte, Kreuzungen und Knoten, die uns etwas Neues zu lernen erlauben, wenn wir erstens die radikale Distanz, zweitens die Verteilung der Rollen und drittens die Grenzen zwischen den Gebieten ablehnen.“ (Rancière 2009: 28) (* 4 )
In seinem Plädoyer für hemmungsloses Überschreiten hierarchisierender Grenzen setzt er als Ausgangspunkt die Infragestellung und Auflösung der Gegenüberstellungen „Sehen/Wissen; Erscheinung/Wirklichkeit; Aktivität/Passivität“, da diese „keine logischen Gegensätze“ seien, sondern eine spezifische Aufteilung des Sinnlichen, „eine apriorische Verteilung von Positionen und von Fähigkeiten und Unfähigkeiten, die an diese Positionen geknüpft sind“, definieren (Rancière 2009: 22f.) (* 4 ). Rancière zeichnet hierbei das Bild einer emanzipierten Gesellschaft, die aus einer Gemeinschaft von ErzählerInnen und ÜbersetzerInnen besteht – eine Gesellschaft, in welcher der/ die ZuschauerIn zur „aktiven InterpretIn“ wird bzw. jedem Gesellschaftsmitglied der Raum und die Möglichkeiten, sich selbst zu übersetzen, zugestanden wird: „Es bedarf der Zuschauer, die die Rolle aktiver Interpreten spielen, die ihre eigene Übersetzung ausarbeiten, um sich die „Geschichte“ anzueignen und daraus ihre eigene Geschichte zu machen. Eine emanzipierte Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Erzählern und von Übersetzern.“ (Ranciere 2009: 33) (* 4 )
Laut Rancière ist jede/r zugleich ZuschauerIn/BesucherIn des eigenen Milieus, des eigenen Handlungsfeldes – die Kompetenz der Reflexion und politischen Perspektivierung des eigenen Handelns liegt bei den AkteurInnen selbst. Die als besonders legitim erachteten Positionen des Erzählens im Sozialen Raum (KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen, etc.) sind demnach kondensierte Positionen, wobei, mit Rancière gesprochen, die Emanzipation der ZuschauerInnen da beginnt, wo sie „ihr eigenes Gedicht zusammenstellen“ (Ranciere 2009: 24) (* 4 ).
Stellt man die Frage nach einer Gemeinschaft von ErzählerInnen und ÜbersetzerInnen sowohl hinsichtlich der Kunst als auch hinsichtlich der Politik, scheint das Um und Auf im Erproben von Formen der Selbstorganisation zu liegen, die als Grundbedingung ihres Handelns Gleichheit voraussetzen und sich nicht aufgrund der Position im sozialen Raum in ihrem Handeln einschränken lassen, sondern mit den gesellschaftlichen Grenzen produktiv umgehen. Wenn wir also im Sinne Rancières einer neuen Aufteilung des Sinnlichen auf der Spur sind, lohnt es sich, konkreten Praktiken der Selbstorganisation auf der Spielwiese urbanen Gärtnerns nachzugehen.
Berking, H. and M. Löw, Eds. (2008). Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Interdisziplinäre Stadtforschung. Frankfurt/Main, New York.
Bourdieu, Pierre: Ortseffekte, in: Ders. et al (Hg.): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, UVK Universitätsverlag Konstanz, 1997, S. 117-127.
Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books, 2008, 2. Auflage (Originalausgabe „Le Partage du sensible. Esthétique et politique, Paris: La Fabrique Éditions, 2000).
Ders.: Der emanzipierte Zuschauer, (aus dem Französischen von Richard Steurer orig. Titel: Le spectateur émancipé, Editions La fabrique, Paris, 2008); Wien: Passagen Verlag, 2009.
Spielmann, Walter: Gartenglück auf 19 mal 36 m² (Barbara Reisinger und Gerold Tusch), in: Spielmann, Walter /Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen /Lebensministerium (Hg.): Die Einübung des anderen Blicks. Gespräche über Kunst und Nachhaltigkeit, S. 63-76.
Andere Quellen:
Interview mit Christine Brandstätter, Salzburg, 30.5.2012
Mit Volxküche wird eine Praxis des kollektiven Kochens bezeichnet, bei der zum Selbstkostenpreis oder auch darunter Essen, meist vegetarisch oder vegan, zubereitet und ausgegeben wird. Volxküchen gibt es in unterschiedlichen Formen, und sie sind Teil linksalternativer Alltagspraxen. Vgl. u. a. http://de.wikipedia.org/wiki/Volxk%C3%BCche, 7.8.2012.
Laila Huber ( 2012): „Gemeinsam die Stadt zum Blühen bringen“. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 01 , https://www.p-art-icipate.net/gemeinsam-die-stadt-zum-bluhen-bringen/