Experimentansätze aus dem Reallabor: Über das Potenzial, spielerisch zu einer Kultur der Nachhaltigkeit zu inspirieren

Ein Bericht aus der Praxis

Wie schaffen wir es, Nachhaltigkeit in die Lebenswelten der Menschen einziehen zu lassen? Sie präsent im Gedankengut, Handeln und Alltag werden zu lassen? Sie zur Normalität werden zu lassen? Denn das ist es, was wir brauchen, wenn wir beispielsweise auf den immer dringlicher werdenden Klimawandel blicken: einen Wandel weg von dem, was aktuell von den meisten Menschen als selbstverständlich und normal angesehen wird, hin zu zukunftsfähigen Verhaltens- und Wirtschaftsweisen. Im in Karlsruhe angesiedelten Stadtforschungs- und Entwicklungsprojekt Quartier Zukunft – Labor Stadt*1 *(1) (im Folgenden auch kurz Quartier Zukunft genannt) versucht ein Team aus Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen, genau das herauszufinden. Die Autorinnen sind bzw. waren Teil dieses Teams.

Im folgenden Artikel wird zunächst erläutert, was Reallabore sind und welche Rolle Nachhaltigkeit dabei spielt. Basierend darauf wird das zugehörige Forschungsformat ‚Selbstexperimente‘ anhand von Praxisbeispielen erklärt. Das Reallabor Quartier Zukunft wird vorgestellt und zwei darin entstandene Experimentformate werden beschrieben und verglichen. Abschließend werden Unterschiede und Potenziale des Experimentierens in den beiden Formaten herausgearbeitet.

Von Reallaboren und Nachhaltigkeit

In einem Reallabor wird Wissenschaft mit praktischer Umsetzung von Nachhaltigkeit vereint. Der Begriff Reallabor entstammt einem deutschen Expertengutachten aus dem Jahr 2013, welches vom MWK (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg) in Auftrag gegeben wurde und sich mit dem Thema Wissenschaft für Nachhaltigkeit beschäftigte (MWK 2013).star (*7) Aufbauend auf diesem Gutachten wurden vom MWK bislang drei Förderrunden zum Thema Reallabore ausgeschrieben. Aber auch Bundesministerien wie das BMWi (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) haben das Konzept aufgegriffen, sich allerdings vom ursprünglichen Grundgedanken und der Ausrichtung an transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung und einer nachhaltigen Transformation der Gesellschaft entfernt (Beecroft 2019).star (*2)

Unserer Arbeit im Quartier Zukunft liegt hingegen folgendes Verständnis zugrunde: Ein Reallabor bezeichnet hier eine Umgebung, einen Rahmen für darin stattfindende transdisziplinäre Nachhaltigkeitsprojekte und Experimente, um eine nachhaltige Entwicklung voranzutreiben und in der Gesellschaft zu verankern. Diese Projekte können unterschiedliche Themen und Akteur:innen betreffen und auch zu verschiedenen Zeitpunkten starten und enden (Beecroft et al. 2018).star (*3) Wichtig und ihnen gemeinsam ist, dass reale Transformationsprozesse und Fragestellungen begleitet und initiiert werden. Eine übliche Form in Reallaboren zu arbeiten, stellen sogenannte Realexperimente dar. In ihnen wird transdisziplinär, also gemeinsam mit Akteur:innen aus der Praxis, aber auch der Wissenschaft in Co-Design und Co-Creation gearbeitet. Es werden konkrete Problemstellungen aus der Praxis aufgegriffen und gemeinsame Experimente geplant, durchgeführt und ausgewertet (Beecroft et al. 2018).star (*3) Dabei kann eine Vielfalt von Methoden und Methodenkombinationen zum Einsatz kommen. Das Reallabor stellt für all diese Aktivitäten die Infrastruktur dar, und kann laut Beecroft und Parodi (2016) durch die folgenden neun Charakteristika gekennzeichnet werden: „Forschungsorientierung, normative Orientierung an Nachhaltigkeit, Transdisziplinarität, Transformativität, zivilgesellschaftliche Orientierung, Langfristigkeit, Laborcharakter, Modellcharakter, Bildungsort und Lernort“ (Parodi und Beecroft 2016, Website Quartier Zukunft*2 *(2)).

Das Verständnis von Nachhaltigkeit ist im Quartier Zukunft zum einen geprägt von der Brundtland-Definition. Diese wurde bereits 1987 im UN-Bericht Our Common Future formuliert und lautet folgendermaßen: Eine nachhaltige Entwicklung ist dann realisiert, wenn sie „die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987: 46).star (*4)

Zum anderen spielt das Integrative Konzept Nachhaltiger Entwicklung eine zentrale Rolle. Dieses definiert 15 Regeln, die alle erfüllt sein müssen, um von einer nachhaltigen Entwicklung sprechen zu können (Kopfmüller et al. 2001).star (*5) Abbildung 1 zeigt eine Kurzzusammenfassung der 15 Regeln.

Abbildung 1: Die 15 Regeln des Integrativen Konzeptes Nachhaltiger Entwicklung mit seinen drei generellen Zielen (Seebacher et al. 2019 basierend auf Kopfmüller et al. 2002, S.172)

Abbildung 1: Die 15 Regeln des Integrativen Konzeptes Nachhaltiger Entwicklung mit seinen drei generellen Zielen (Seebacher et al. 2019 basierend auf Kopfmüller et al. 2002, S.172)

Vom Experimentieren und Kulturschaffen

In einem Reallabor finden also Experimente statt, um Verhaltensweisen zu hinterfragen und zu neuen Lebenspraktiken zu inspirieren. Es geht darum, zu reflektieren, sich zu informieren, das Gelernte direkt umzusetzen und sich darüber auszutauschen. Die Experimente sind dabei bewusst spielerisch angelegt und ‚scheitern‘ ist erlaubt. Das Ziel ist demnach nicht, sofort ein perfektes nachhaltiges Leben zu leben, sondern auszuprobieren, zu reflektieren und im Zweifel auch wieder zurückzukehren zu alten Verhaltensmustern. Ansatzpunkte, den eigenen Alltag nachhaltiger zu gestalten, gibt es viele und es darf ausprobiert werden, womit man sich wohlfühlt. Das Experimentieren soll Spaß machen und Gemeinschaft stiften, denn Nachhaltigkeit kann am Ende nur gemeinsam umgesetzt werden: Zusammen ergeben wir Gesellschaft und Gesellschaft braucht Kultur. Unter Kultur ist hier die Art gemeint, wie wir zusammenleben, welche Sprache und Bilder wir verwenden, um zu kommunizieren, wie wir miteinander und mit unserer Umwelt umgehen. Kultur ist Denken und Handeln. Und genau darum geht es in Realexperimenten: zum Nachdenken anzuregen, zum Handeln zu inspirieren und einer Kultur der Nachhaltigkeit ein Stück näher zu kommen.

Das Projekt Quartier Zukunft – Labor Stadt

Das Projekt Quartier Zukunft – Labor Stadt ist ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt, das in der Karlsruher Oststadt und mit den dort lebenden Menschen gemeinsam eine nachhaltige Gegenwart und Zukunft gestalten will. Die zentrale Frage hierbei ist: Wie können wir heute und morgen in der Stadt gut leben – und dabei Mitwelt, Umwelt und Nachwelt achten?

Bestehendes soll dabei integriert und nicht alles komplett neu erschaffen werden. Vielmehr geht es um eine Umgestaltung, gemeinsam mit Bürgerschaft, Wissenschaft, Politik und Privatwirtschaft. Innerhalb bestehender Baustrukturen entstehen somit Möglichkeitsräume für neue Ideen, Handlungsweisen und Begegnungen (Quartier Zukunft (Hrsg.) et al. 2020).star (*11)

Um solche Veränderungsprozesse sicht- und erfahrbar zu machen und Wechselwirkungen zwischen ihnen entstehen zu lassen und zu beobachten, ist ein abgrenzbarer Bezugsraum hilfreich. Dies ist einer der Gründe, weshalb für das Reallabor Quartier Zukunft ein Stadtquartier als Experimentierraum ausgewählt wurde. Innerhalb dieser bereits bestehenden Rahmung kann dichte Nachhaltigkeit entstehen und gemeinschaftlich an Gegenwart und Zukunft gearbeitet werden. (Vgl. das Interview mit Oliver Parodi in dieser eJournal-Ausgabe)

Verschiedene Experimentansätze und ihre Eigenschaften

Im Quartier Zukunft – Labor Stadt wurden in den letzten Jahren verschiedene Experimentansätze erprobt. Diese werden im folgenden Abschnitt vorgestellt.

A) Dein NachhaltigkeitsExperiment: Experimente zu Gemeinschaft und Entschleunigung entwickeln und umsetzen

Gemeinsam mit der Karlsruher Bürgerstiftung wurde 2016 das Experimentformat Dein NachhaltigkeitsExperiment geplant. In einem Wettbewerb wurden Ideen zur Förderung von Gemeinschaft und Entschleunigung in der Karlsruher Oststadt gesucht. Die Bürgerstiftung stellte dabei einen Großteil des Preisgeldes zur Verfügung und war an der Auswahljury beteiligt. Das Format gliederte sich in eine Wettbewerbs- und Bewerbungsphase, eine Auswahlphase und die daran anschließende Experimentierphase, in der insgesamt vier geförderte Experimente umgesetzt wurden. Voraussetzungen für die Bewerbung waren, dass die Experimente auf einen Zeitraum von neun Monaten ausgelegt waren und dass sie jeweils von Gruppen, bestehend aus mindestens drei Personen, durchgeführt wurden. Nach einem öffentlichen Kick-off-Treffen, wo alle eingesendeten Ideen ausgestellt und die Gewinner:innenprojekte im Detail vorgestellt wurden, fand mit den Preisträger:innen eine Konkretisierung ihrer Ideen statt. Dabei wurden die Experimentkonzepte finalisiert, erste Veranstaltungen geplant und weitere Mitstreiter:innen gewonnen. Zeitgleich wurde das begleitende Forschungsdesign durch das Quartier Zukunft-Team finalisiert (Quartier Zukunft (Hrsg.) et al. 2020).star (*11)

Die Intention des Wettbewerbes war, dass zivilgesellschaftliche Gruppen Angebote für die Gesellschaft des Stadtteils entwickeln sollten, die nachhaltiges Handeln erleb- und erfahrbar machen. An Dein NachhaltigkeitsExperiment waren drei verschiedene Gruppen beteiligt:

1) das Team, das den Wettbewerb organisierte

2) die Gruppen, die Ideen erarbeiteten und sich beworben hatten (im Folgenden auch Experimentierende genannt)

und 3) die Menschen, die mit dem Angebot im nächsten Schritt erreicht werden sollten (im Folgenden Teilnehmer:innen genannt).

Der Wettbewerbscharakter diente dabei als Anreiz, um neue Ideen zu entwickeln oder vielleicht auch die eine oder andere Idee zu verwirklichen, die schon lange in Köpfen oder Schubladen schlummerte. Es ging außerdem darum, die Gemeinschaft in der Oststadt zu fördern, denn Nachhaltigkeit funktioniert am Ende nicht alleine. Die Idee, weitere Menschen einzuladen, zu inspirieren und mitzunehmen, war ein wichtiger Teil des Konzepts. Man könnte sagen, das Konzept hatte das Potenzial, eine Nachhaltigkeitscommunity zu den im Wettbewerb thematisierten Begriffen „Gemeinschaft“ und „Entschleunigung“ zu gründen.

Konkret wurden folgende Experimente umgesetzt:

  • Urban Gardening (Naschbeete für jede:n) kombiniert mit der Ansiedlung von Bienen
  • ein Experiment, in dem verschiedene Kunstformen angeboten wurden, um gemeinschaftlich dem Alltagsstress entgegenzuwirken
  • ein Experiment zum Sichtbarmachen der eigenen, nachhaltigen Konsumentscheidung durch ein Second-Hand-Label
  • und ein Nachbarschaftstreff, welcher das Ziel verfolgte, Projekte für mehr Gemeinschaft im Quartier zu entwickeln.*3 *(3)

Abbildung 2: Impressionen aus den NH-Experimenten

B) Klimaschutz gemeinsam wagen: Vorgefertigte Experimentideen umsetzen

In dem seit 2019 bis heute laufenden BMU*4 *(4)-Projekt Klimaschutz gemeinsam wagen!*5 *(5) wurden mit interessierten Bürger:innen zu den drei Themenfeldern Ernährung, Mobilität und Konsum klimafreundliche Alternativhandlungen und Alltagsroutinen – in Form von Selbstexperimenten – erarbeitet. Diese Selbstexperimente sollten anschließend von möglichst vielen Menschen durchgeführt werden. Neben der Erfassung der dabei erfolgten CO2-Äquivalent-Einsparungen lag ein weiteres Augenmerk auf einer gezielten Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung im Bereich Klimaschutz. Durch gemeinschaftliche Formate (etwa Workshops, Stammtische, Themenabende) sollten neu erarbeitete Handlungen gefestigt und etabliert werden.

In den Selbstexperimenten ging es darum, eigene (nicht nachhaltige) Alltagsroutinen bezüglich Ernährung, Mobilität und/oder Konsum zu hinterfragen und aufzubrechen, indem über mehrere Wochen (mindestens vier) eine Verhaltensänderung ausprobiert wurde. Die Selbstreflexion stand hier am Anfang des Prozesses. Während des Experimentierens konnte, wenn gewünscht, der Austausch mit anderen Experimentierenden dazukommen. Die Selbstexperimente wurden dokumentiert und zusätzlich wissenschaftlich begleitet. Fragebögen zu Beginn und Ende des Experiments gaben eine Hilfestellung zur Reflexion und lieferten Informationen zu Hürden und Erkenntnissen aus den Selbstexperimenten.

Es ging also darum, fertig entwickelte Experimente zu bewerben und Menschen zu gewinnen, die diese in ihrem Alltag umsetzen wollten. Das Ziel war es, Menschen dazu zu inspirieren, neue, nachhaltigere Handlungsweisen in den Alltag einziehen zu lassen.*6 *(6)

 

Abbildung 4 Überblick über die entwickelten Selbstexperimente in den drei Themenfeldern Ernährung, Mobilität und Konsum

Abbildung 3: Überblick über die entwickelten Selbstexperimente in den drei Themenfeldern Ernährung, Mobilität und Konsum

Unterschiede der Experimentformate

Nachdem nun die zwei verschiedenen Experimentformate vorgestellt wurden, folgt ein Vergleich, um basierend darauf eine Einschätzung treffen zu können, welcher Ansatz in welchen Kontexten geeigneter sein könnte. Dazu werden die drei Kriterien Direktheit, Zielgruppe und Intensität/Zeitaufwand herangezogen. Diese ermöglichen es, die Besonderheiten und Unterschiede der beiden Formate herauszuarbeiten. Die Kriterien entspringen der internen Projektarbeit und können bei der Entscheidung helfen, welches der beiden Formate für die eigene Anwendung gewinnbringend sein könnte.

Direktheit

A) Das Ziel des Wettbewerbs ist es, über zwei Stufen Menschen mit dem Thema Nachhaltigkeit zu erreichen. Zuerst erstellt eine Gruppe ein Angebot und in einer zweiten Stufe nehmen Menschen daran teil. Das Forscher:innen-Team des Quartier Zukunft steht hierbei vor allem in engem Austausch mit der Gruppe, die das Experiment konzipiert und damit am Wettbewerb teilnimmt. Die Forschungsfragen drehen sich um die beiden im Wettbewerb thematisierten Begriffe Gemeinschaft und Entschleunigung sowie um die Gruppendynamik mit ihren internen Prozessen.

B) Das Ziel der Selbstexperimente ist es, Menschen zu inspirieren und direkt anzuleiten, Handlungsalternativen auszuprobieren und damit ihren Alltag für einen gewissen Zeitraum zu verändern. Die begleitende Forschung zielt auf individuelle Erfahrungen auf praktischer, emotionaler und auch gesellschaftlicher Ebene ab. Forscher:innen haben hierzu direkten Kontakt zu den Menschen, die die Selbstexperimente durchführen.

Zielgruppe

A) Die beiden Stufen im Wettbewerbsformat sprechen unterschiedliche Typen Mensch an. Um als Gruppe eine Community aufzubauen, braucht es viel Einsatz; Menschen, die mit Herz und Hand dabei sind. Der dänische Begriff ‚Ildsjæl‘, frei übersetzt ‚Feuerseele‘, ist hier recht passend. Hingegen sprechen die Angebote, die von der Gruppe für andere Teilnehmer:innen entwickelt werden, eher Menschen an, die sich ab und zu mit einem Thema beschäftigen oder auseinandersetzen wollen, ohne sich jedoch längerfristig zu etwas verpflichten zu müssen.

B) Die Klima-Selbstexperimente sind an Menschen adressiert, die spontan Lust haben, etwas in ihrem Leben zu ändern. Im oben genannten Projekt Klimaschutz gemeinsam wagen! werden die Selbstexperimente oft auch im Kontext Lehre mit Studierenden angewandt. In einer Struktur aus Auftakt- und Reflexionsworkshop und der Experimentphase dazwischen können Studierende im Rahmen von Workshops an den Selbstexperimenten teilnehmen und gleichzeitig Leistungspunkte für ihr Studium sammeln.

Intensität/Zeitaufwand

A) Das Wettbewerbsformat weist verschiedene Intensitätsstufen auf. Die Gruppe, die die Idee entwickelt und das daraus entstehende Angebot umgesetzt hat, ist natürlich sowohl thematisch als auch zeitlich eng eingebunden und durchläuft zusätzlich intensive Gruppenprozesse. Der Aufbau einer Gruppe und das gemeinschaftliche Umsetzen eines Projekts erfordert Entschlossenheit und ‚Commitment‘.

Die Teilnahme an den entwickelten Angeboten gestaltet sich sehr flexibel und kann auch nur punktuell geschehen. Teilnehmer:innen der Angebote können beispielsweise entweder nur einmalig an einem Workshop teilnehmen oder aber die Angebote regelmäßig wahrnehmen. Hier sind also unterschiedliche Intensitäten und damit Nachhaltigkeitsanreize und Lernerfahrungen möglich.

B) Die Selbstexperimente bieten die Möglichkeit, einfach loszulegen, ohne sich selbst etwas ausdenken oder in eine Community integrieren zu müssen. Das bedeutet zu Beginn deutlich weniger Zeitaufwand. Das Experimentieren selbst, je nachdem wie intensiv man sich damit auseinandersetzt und wie lange man ein Experiment durchführt, kann einiges an Zeit im Anspruch nehmen. Dazu kommen die begleitende Dokumentation des Experiments und die Teilnahme an der Begleitforschung. Je nach Experiment muss täglich dokumentiert werden (z.B. wenn mit einer vegetarischen oder veganen Ernährung experimentiert wird). Der starke Gruppenkontext von Experimentformat (A) ist bei den Selbstexperimenten weniger stark gegeben, kann jedoch hergestellt werden indem die Selbstexperimente in Schulklassen, mit Studierenden in einem Seminarkontext oder z.B. einer Gruppe von Kolleg:innen durchgeführt werden. Zudem gibt es neben den Selbstexperimenten sogenannte ‚Klimaknaller‘, die mit einer einmaligen Umsetzung große Mengen an CO2-Äquivalent -Einsparungen ermöglichen.

Potenziale des Experimentierens

Insgesamt zeigt die Erfahrung mit beiden Ansätzen, dass das Experimentieren ein gut geeignetes Format ist, um Menschen an das Thema Nachhaltigkeit heranzuführen. Das große Potenzial des Experimentierens liegt in seinem spielerischen Ansatz. Es wird Freude am Thema geweckt und durch die Möglichkeit, etwas auszuprobieren, entsteht die Freiheit, sich ohne Zwang mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Die Teilnehmer:innen können austesten, was ins eigene Leben passt, was einfach geht, was schwieriger ist. So finden sie heraus, wo die eigene Motivation liegt, was Freude bereitet und was schwerer fällt.

Durch das Herunterbrechen auf einzelne Themenbereiche und konkrete Handlungsweisen wird Nachhaltigkeit im Alltag umsetzbar. Zudem macht der begrenzte Zeitraum eines Selbstexperiments es leichter, sich dafür zu entscheiden. Er setzt die Hürde herab, Neues auszuprobieren und nimmt Druck heraus. Man entscheidet sich eben nicht für ein komplett veganes Leben für immer, sondern nimmt sich einen begrenzten Zeitraum, beispielsweise 12 Wochen, vor. Das ist machbar und nimmt zudem Druck von außen, sollte man sich danach wieder umentscheiden.

Darüber hinaus konnte beobachtet werden, dass die Beschäftigung mit einem Nachhaltigkeitsbereich Interesse an weiteren wecken kann. Mit den Experimenten wurden in beiden Formaten eine Vielfalt an Themen abgedeckt und angeboten. Damit kann Nachhaltigkeit aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und erlebt werden.

Die Ansätze geben die Möglichkeit, in nachhaltige Handlungsweisen hineinzuschnuppern und damit über den eigenen Tellerrand zu schauen. Sie regen dazu an, Interesse an den vielen Facetten von Nachhaltigkeit zu entwickeln und zu erkennen, welchen eigenen Beitrag man dazu leisten kann. Dadurch, dass die Selbstexperimente einzelne Bereiche von Nachhaltigkeit beleuchten und gezielt aufbereiten, wird das Thema greifbar. Der überwältigende Umfang wird aufgebrochen in „machbare“ Teile, die im Alltag hinterfragt und ausprobiert werden können.

Beide Experimentformate bieten die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen, Erfahrungen zu teilen, über Herausforderungen zu sprechen und Erfolgserlebnisse zu feiern. Das motiviert und hilft bei der eigenen Reflexion.

Das Potenzial, eine Community aufzubauen, ist vor allem bei Experimentformat (A) gegeben. Dieses gab zwar einen thematischen Rahmen vor, Kreativität und Ideenentwicklung standen hier aber im Vordergrund. Eigene Ideen zu entwickeln und als Projekte umzusetzen, ist eine wertvolle intrinsische Motivation für die Teilnahme. Dafür ist das Experimentformat (B) vermutlich schneller und mit weniger Aufwand übertragbar in andere Städte und Kommunen. Es können Selbstexperimente für ein gewünschtes Thema entwickelt werden und diese dann, gegebenenfalls auch durch geschulte Multiplikator:innen (die die Selbstexperimente anleiten), ohne größere Änderungen an vielen anderen Orte angeboten werden. Das ist finanziell und vom Personaleinsatz her ein großer Vorteil. Die Erfahrung hat ebenso gezeigt, dass das Format zumindest im Kontext Lehre an der Universität online sehr gut umsetzbar ist.

Zusammenfassung

Abschließend lässt sich sagen, dass beide Formate einen guten Rahmen vorgeben und geeignet sind, das Experimentieren für eine Kultur der Nachhaltigkeit innerhalb der Gesellschaft anzuregen. Mit beiden beschriebenen Ansätzen versuchten wir, ein positives Bild von Nachhaltigkeit zu zeichnen und in die Welt zu tragen. Wir wünschen uns, dass es immer mehr solche kreativen Ansätze geben wird, die den Menschen Lust auf Nachhaltigkeit machen und dem Streben der Menschheit nach einer Kultur der Nachhaltigkeit behilflich sind.

Denn was wir für eine nachhaltigere Welt brauchen, sind viele Menschen, die anfangen; viele, die ein bisschen etwas tun, ohne allzu großen Perfektionismus und den Druck, alles richtig machen zu müssen. Das nimmt nämlich die Freude an der Sache. Und die braucht es unserer Erfahrung nach, um Dinge zu verändern.

star

Albiez, Marius (2021): Quartier Zukunft – Labor Stadt: Methoden im Reallabor I & II. Inputs im Rahmen der Fachtagung: Herausforderung Reallabor: Methoden | Übertragbarkeit | Impact. Karlsruher Transformationszentrum (KIT), Wuppertal Institut, StadtManufaktur (TU Berlin), im Rahmen des Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit, 18.02.2021.

star

Beecroft, Richard (2019): Das Reallabor als transdisziplinärer Rahmen zur Unterstützung und Vernetzung von Lernzyklen. Dissertation. Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg. Online verfügbar unter https://pub-data.leuphana.de/frontdoor/deliver/index/docId/1031/file/diss_2020_beecroft_richard.pdf, zuletzt geprüft am 22.10.2020.

star

Beercroft, Richard; Trenks, Helena; Rhodius, Regina; Benighaus, Christina; Parodi, Oliver (2018): Reallabore als Rahmen transformativer und transdisziplinärer Forschung: Ziele und Designprinzipien. In: Rico Defila und Antonietta Di Giulio (Hg.): Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 75–99.

star

Hauff, Volker (Hg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. [der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung]. Ungekürzte Ausg. mit e. neuen Vorw. zur dt. Ausg. Greven: Eggenkamp.

star

Kopfmüller, Jürgen; Brandl, Volker; Jörissen, Juliane; Paetau, Michael; Banse, Gerhard; Coenen, Reinhard; Grunwald, Armin (2001): Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin: edition sigma (Global zukunftsfähige Entwicklung – Perspektiven für Deutschland, 1).

star

Meyer-Soylu, Sarah; Parodi, Oliver; Trenks, Helena; Seebacher, Andreas (2016): Das Reallabor als Partizipationskontinuum. Erfahrungen aus dem Quartier Zukunft und Reallabor 131 in Karlsruhe. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 25 (3), S. 31–40. Online unter http://www.tatup-journal.de/downloads/2016/tatup163.pdf.

star

MWK (2013): Wissenschaft für Nachhaltigkeit. Herausforderung und Chance für das baden-württembergische Wissenschaftssystem. Expertengruppe „Wissenschaft für Nachhaltigkeit“ – Bericht. Unter Mitarbeit von Uwe Schneidewind und Karin Boschert. Stuttgart. Online unter https://mwk.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-mwk/intern/dateien/pdf/Wissenschaft_f%C3%BCr_Nachhaltigkeit/Expertenbericht_RZ_MWK_Broschuere_Nachhaltigkeit_Web.pdf.

star

Parodi, Oliver; Beecroft, Richard (2016): Reallabore als Einrichtungen der Nachhaltigkeitsforschung und Transformation – Wo, woher, wohin? In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 25 (3).

star

Parodi, Oliver (2019): Wider eine Engführung des Reallabor-Konzepts. Eine Antwort auf „Die Grenzen der Erkenntnis im Reallabor”. In: Ökologisches Wirtschaften (2), S. 8–9.

star

Seebacher, Andreas; Albiez, Marius; Parodi, Oliver; Quint, Alexandra; Zimmer-Merkle, S; Walter, I (2019): Wie Nachhaltigkeit möglich ist. Leporello, 3. Auflage.

star

Quartier Zukunft; Parodi, Oliver; Trenks, Helena; Waitz, Colette; Meyer-Soylu, Sarah; Seebacher, Andreas; Quint, Alexandra (Hg.) (2020): Dein Quartier und Du – Nachhaltigkeitsexperimente im Reallabor zu Nachbarschaften, Bienen, Naschbeeten, Kreativität und Konsum: KIT Scientific Publishing.

„Das Quartier Zukunft – Labor Stadt ist ein transdisziplinäres Stadtforschungs- und Entwicklungsprojekt, angesiedelt am KIT, welches das Ziel verfolgt, die Karlsruher Oststadt exemplarisch in einem offenen, dialogbasierten und langfristig angelegten Prozess in ein nachhaltiges Stadtquartier zu transformieren. Im Mittelpunkt steht hierbei das gemeinsame Wirken der Stadtgesellschaft, vor allem der Bürger:innen. Die Transformation soll in einem Schulterschluss von Wissenschaft, Bürgerschaft, Politik und Privatwirtschaft erfolgen.“  (Meyer-Soylu et al. 2016: 32).

Genaue Beschreibungen der NachhaltigkeitsExperimente finden sich im Buch Dein Quartier und Du. https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000076132

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit

Mehr Informationen zum Projekt gibt es auf www.klimaschutzgemeinsamwagen.de und www.itas.kit.edu/projekte_mewa18_kia.php.

Alle Experimente sind auf der Website des Projekts detailliert beschrieben und können als Inspiration an anderer Stelle verwendet werden. www.klimaschutzgemeinsamwagen.de/selbstexperimente/

Sarah Meyer-Soylu, Colette Waitz ( 2021): Experimentansätze aus dem Reallabor: Über das Potenzial, spielerisch zu einer Kultur der Nachhaltigkeit zu inspirieren. Ein Bericht aus der Praxis . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 12 , https://www.p-art-icipate.net/experimentansaetze-aus-dem-reallabor-ueber-das-potenzial-spielerisch-zu-einer-kultur-der-nachhaltigkeit-zu-inspirieren/