Experimentansätze aus dem Reallabor: Über das Potenzial, spielerisch zu einer Kultur der Nachhaltigkeit zu inspirieren

Ein Bericht aus der Praxis

Wie schaffen wir es, Nachhaltigkeit in die Lebenswelten der Menschen einziehen zu lassen? Sie präsent im Gedankengut, Handeln und Alltag werden zu lassen? Sie zur Normalität werden zu lassen? Denn das ist es, was wir brauchen, wenn wir beispielsweise auf den immer dringlicher werdenden Klimawandel blicken: einen Wandel weg von dem, was aktuell von den meisten Menschen als selbstverständlich und normal angesehen wird, hin zu zukunftsfähigen Verhaltens- und Wirtschaftsweisen. Im in Karlsruhe angesiedelten Stadtforschungs- und Entwicklungsprojekt Quartier Zukunft – Labor Stadt*1 *(1) (im Folgenden auch kurz Quartier Zukunft genannt) versucht ein Team aus Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen, genau das herauszufinden. Die Autorinnen sind bzw. waren Teil dieses Teams.

Im folgenden Artikel wird zunächst erläutert, was Reallabore sind und welche Rolle Nachhaltigkeit dabei spielt. Basierend darauf wird das zugehörige Forschungsformat ‚Selbstexperimente‘ anhand von Praxisbeispielen erklärt. Das Reallabor Quartier Zukunft wird vorgestellt und zwei darin entstandene Experimentformate werden beschrieben und verglichen. Abschließend werden Unterschiede und Potenziale des Experimentierens in den beiden Formaten herausgearbeitet.

Von Reallaboren und Nachhaltigkeit

In einem Reallabor wird Wissenschaft mit praktischer Umsetzung von Nachhaltigkeit vereint. Der Begriff Reallabor entstammt einem deutschen Expertengutachten aus dem Jahr 2013, welches vom MWK (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg) in Auftrag gegeben wurde und sich mit dem Thema Wissenschaft für Nachhaltigkeit beschäftigte (MWK 2013).star (*7) Aufbauend auf diesem Gutachten wurden vom MWK bislang drei Förderrunden zum Thema Reallabore ausgeschrieben. Aber auch Bundesministerien wie das BMWi (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) haben das Konzept aufgegriffen, sich allerdings vom ursprünglichen Grundgedanken und der Ausrichtung an transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung und einer nachhaltigen Transformation der Gesellschaft entfernt (Beecroft 2019).star (*2)

Unserer Arbeit im Quartier Zukunft liegt hingegen folgendes Verständnis zugrunde: Ein Reallabor bezeichnet hier eine Umgebung, einen Rahmen für darin stattfindende transdisziplinäre Nachhaltigkeitsprojekte und Experimente, um eine nachhaltige Entwicklung voranzutreiben und in der Gesellschaft zu verankern. Diese Projekte können unterschiedliche Themen und Akteur:innen betreffen und auch zu verschiedenen Zeitpunkten starten und enden (Beecroft et al. 2018).star (*3) Wichtig und ihnen gemeinsam ist, dass reale Transformationsprozesse und Fragestellungen begleitet und initiiert werden. Eine übliche Form in Reallaboren zu arbeiten, stellen sogenannte Realexperimente dar. In ihnen wird transdisziplinär, also gemeinsam mit Akteur:innen aus der Praxis, aber auch der Wissenschaft in Co-Design und Co-Creation gearbeitet. Es werden konkrete Problemstellungen aus der Praxis aufgegriffen und gemeinsame Experimente geplant, durchgeführt und ausgewertet (Beecroft et al. 2018).star (*3) Dabei kann eine Vielfalt von Methoden und Methodenkombinationen zum Einsatz kommen. Das Reallabor stellt für all diese Aktivitäten die Infrastruktur dar, und kann laut Beecroft und Parodi (2016) durch die folgenden neun Charakteristika gekennzeichnet werden: „Forschungsorientierung, normative Orientierung an Nachhaltigkeit, Transdisziplinarität, Transformativität, zivilgesellschaftliche Orientierung, Langfristigkeit, Laborcharakter, Modellcharakter, Bildungsort und Lernort“ (Parodi und Beecroft 2016, Website Quartier Zukunft*2 *(2)).

Das Verständnis von Nachhaltigkeit ist im Quartier Zukunft zum einen geprägt von der Brundtland-Definition. Diese wurde bereits 1987 im UN-Bericht Our Common Future formuliert und lautet folgendermaßen: Eine nachhaltige Entwicklung ist dann realisiert, wenn sie „die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987: 46).star (*4)

Zum anderen spielt das Integrative Konzept Nachhaltiger Entwicklung eine zentrale Rolle. Dieses definiert 15 Regeln, die alle erfüllt sein müssen, um von einer nachhaltigen Entwicklung sprechen zu können (Kopfmüller et al. 2001).star (*5) Abbildung 1 zeigt eine Kurzzusammenfassung der 15 Regeln.

Abbildung 1: Die 15 Regeln des Integrativen Konzeptes Nachhaltiger Entwicklung mit seinen drei generellen Zielen (Seebacher et al. 2019 basierend auf Kopfmüller et al. 2002, S.172)

Abbildung 1: Die 15 Regeln des Integrativen Konzeptes Nachhaltiger Entwicklung mit seinen drei generellen Zielen (Seebacher et al. 2019 basierend auf Kopfmüller et al. 2002, S.172)

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Albiez, Marius (2021): Quartier Zukunft – Labor Stadt: Methoden im Reallabor I & II. Inputs im Rahmen der Fachtagung: Herausforderung Reallabor: Methoden | Übertragbarkeit | Impact. Karlsruher Transformationszentrum (KIT), Wuppertal Institut, StadtManufaktur (TU Berlin), im Rahmen des Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit, 18.02.2021.

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Beecroft, Richard (2019): Das Reallabor als transdisziplinärer Rahmen zur Unterstützung und Vernetzung von Lernzyklen. Dissertation. Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg. Online verfügbar unter https://pub-data.leuphana.de/frontdoor/deliver/index/docId/1031/file/diss_2020_beecroft_richard.pdf, zuletzt geprüft am 22.10.2020.

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Beercroft, Richard; Trenks, Helena; Rhodius, Regina; Benighaus, Christina; Parodi, Oliver (2018): Reallabore als Rahmen transformativer und transdisziplinärer Forschung: Ziele und Designprinzipien. In: Rico Defila und Antonietta Di Giulio (Hg.): Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 75–99.

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Hauff, Volker (Hg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. [der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung]. Ungekürzte Ausg. mit e. neuen Vorw. zur dt. Ausg. Greven: Eggenkamp.

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Kopfmüller, Jürgen; Brandl, Volker; Jörissen, Juliane; Paetau, Michael; Banse, Gerhard; Coenen, Reinhard; Grunwald, Armin (2001): Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin: edition sigma (Global zukunftsfähige Entwicklung – Perspektiven für Deutschland, 1).

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Meyer-Soylu, Sarah; Parodi, Oliver; Trenks, Helena; Seebacher, Andreas (2016): Das Reallabor als Partizipationskontinuum. Erfahrungen aus dem Quartier Zukunft und Reallabor 131 in Karlsruhe. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 25 (3), S. 31–40. Online unter http://www.tatup-journal.de/downloads/2016/tatup163.pdf.

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MWK (2013): Wissenschaft für Nachhaltigkeit. Herausforderung und Chance für das baden-württembergische Wissenschaftssystem. Expertengruppe „Wissenschaft für Nachhaltigkeit“ – Bericht. Unter Mitarbeit von Uwe Schneidewind und Karin Boschert. Stuttgart. Online unter https://mwk.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-mwk/intern/dateien/pdf/Wissenschaft_f%C3%BCr_Nachhaltigkeit/Expertenbericht_RZ_MWK_Broschuere_Nachhaltigkeit_Web.pdf.

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Parodi, Oliver; Beecroft, Richard (2016): Reallabore als Einrichtungen der Nachhaltigkeitsforschung und Transformation – Wo, woher, wohin? In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 25 (3).

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Parodi, Oliver (2019): Wider eine Engführung des Reallabor-Konzepts. Eine Antwort auf „Die Grenzen der Erkenntnis im Reallabor”. In: Ökologisches Wirtschaften (2), S. 8–9.

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Seebacher, Andreas; Albiez, Marius; Parodi, Oliver; Quint, Alexandra; Zimmer-Merkle, S; Walter, I (2019): Wie Nachhaltigkeit möglich ist. Leporello, 3. Auflage.

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Quartier Zukunft; Parodi, Oliver; Trenks, Helena; Waitz, Colette; Meyer-Soylu, Sarah; Seebacher, Andreas; Quint, Alexandra (Hg.) (2020): Dein Quartier und Du – Nachhaltigkeitsexperimente im Reallabor zu Nachbarschaften, Bienen, Naschbeeten, Kreativität und Konsum: KIT Scientific Publishing.

„Das Quartier Zukunft – Labor Stadt ist ein transdisziplinäres Stadtforschungs- und Entwicklungsprojekt, angesiedelt am KIT, welches das Ziel verfolgt, die Karlsruher Oststadt exemplarisch in einem offenen, dialogbasierten und langfristig angelegten Prozess in ein nachhaltiges Stadtquartier zu transformieren. Im Mittelpunkt steht hierbei das gemeinsame Wirken der Stadtgesellschaft, vor allem der Bürger:innen. Die Transformation soll in einem Schulterschluss von Wissenschaft, Bürgerschaft, Politik und Privatwirtschaft erfolgen.“  (Meyer-Soylu et al. 2016: 32).

Genaue Beschreibungen der NachhaltigkeitsExperimente finden sich im Buch Dein Quartier und Du. https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000076132

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit

Mehr Informationen zum Projekt gibt es auf www.klimaschutzgemeinsamwagen.de und www.itas.kit.edu/projekte_mewa18_kia.php.

Alle Experimente sind auf der Website des Projekts detailliert beschrieben und können als Inspiration an anderer Stelle verwendet werden. www.klimaschutzgemeinsamwagen.de/selbstexperimente/

Sarah Meyer-Soylu, Colette Waitz ( 2021): Experimentansätze aus dem Reallabor: Über das Potenzial, spielerisch zu einer Kultur der Nachhaltigkeit zu inspirieren. Ein Bericht aus der Praxis . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 12 , https://www.p-art-icipate.net/experimentansaetze-aus-dem-reallabor-ueber-das-potenzial-spielerisch-zu-einer-kultur-der-nachhaltigkeit-zu-inspirieren/