Kollektive Erinnerungen und fiktive Geschichte
Die Kulturgeschichte entdeckt das Gaming für sich.
Es benötigt keinen allzu fernen Blick in die Vergangenheit: Noch vor gut einem Jahrzehnt waren PC- und Videospiele nicht einmal eine Randnotiz in der Kulturgeschichte und in ähnlichen wissenschaftlichen Disziplinen und das obwohl sie bereits seit den 80er Jahren ein fester kultureller Bestandteil unsere Gesellschaft sind. Im Sommersemester 2014 nahm sich der Schwerpunkt Wissenschaft & Kunst dieser Thematik an.
Glaubt man den Bestsellerlisten diverser Bücherläden, gibt es ein reges Interesse für Literatur mit einer Liste von Dingen die man in seinem Leben gemacht haben sollte, bevor man stirbt. Erlebnisse wie Bungee Jumping, das Meistern des Jakobswegs oder ähnliche Aktivitäten sind dabei am häufigsten zu lesen. Jede Menge Herausforderungen für ein Leben. Was aber, wenn es Personen gibt, die über mehr als ein Leben verfügen, Personen die mitten unter uns leben und immer mehr werden? Ich selbst behaupte, solch eine Person zu sein, aber weder habe ich das ewige Leben für mich entdeckt noch muss ich mir meinen Körper mit verschiedenen Persönlichkeiten teilen. Nein, ich spiele in meiner Freizeit einfach gerne PC- und Videospiele. Bungee-Jumping kostet mich nur ein müdes Lächeln, schließlich habe ich bereits gegen Ende der 80er Jahre in Super Mario Bros. riskantere Sprungmanöver vollführt, gänzlich ohne Seil. Der Jakobsweg? Geschenkt. Wieso sollte ich den Jakobsweg als Herausforderung betrachten, nachdem ich bereits die 7.000 Stufen nach High Hrothgar in The Elder Scrolls V: Skyrim gemeistert habe? Zudem habe ich von Jakobsweg-Pilgern noch nie etwas von Schneetroll-Zwischenfällen gehört. Im Laufe der letzten gut 25 Jahre habe ich in zahlreichen Leben Fußballmannschaften zu Triumphen im Europa Cup geführt, habe die K. u. K.-Monarchie sicher ins 21. Jahrhundert geführt, habe in postapokalyptischen Welten die Situation mal zum Besseren und mal zum Schlechteren verändert, habe mich mal mehr und mal weniger erfolgreich durch die Zombie-Apokalypse geschlagen, habe die legendäre Schicksalsklinge gefunden und noch unzählige weitere Abenteuer erlebt. Das habe ich doch, oder? Ich war stets der Protagonist und all diese Erlebnisse sind letztlich ein Teil meiner Erinnerung. Wenngleich das Medium neu ist, die Fragestellung ist es nicht. Im 12. und 13. Jahrhundert stellte sich bereits der Minnesänger Walther von der Vogelweide diese Frage: „Ist mîn leben mir getroumet oder ist ez wâr?“ Was ist nun also wahrer, meine Reise nach Australien oder meine Reise nach Tamriel? Immerhin sind beide fest in meinem Kopf verankert und ich würde weder das eine noch das andere missen wollen.
Dies soll jetzt allerdings nicht zu Missverständnissen führen, freilich verläuft eine klare Trennlinie zwischen dieser Welt und den fiktiven Welten eines PC- und Videospiels. Mein Beispiel soll lediglich zeigen, dass sowohl Erlebnisse in dieser als auch in den fiktiven Welten einen Einfluss auf uns haben. Erlebnisse beider Art werden zu Erinnerungen und als Erinnerungen bilden diese Einflüsse ein Konstrukt, indem es keinen Unterschied mehr macht ob man etwas real oder fiktiv erlebt hat. Schließlich liegt beides in der Vergangenheit und die konstruktivistische Forschung hat gezeigt, dass Erinnerungen, je weiter sie zurückliegen, immer weniger und weniger mit der Realität zu tun haben, sondern durch unser aktuelles Ich gezielt geformt beziehungsweise konstruiert werden. Noch interessanter wird es, wenn aus einer singulären Erinnerung, aus einem fiktiven Erlebnis eine kollektive Erinnerung wird, also sich zwei Personen unterhalten, die dasselbe PC- oder Videospiel erlebt haben. Hier ist es sehr wahrscheinlich, dass beide in ihren Erinnerungen schwelgen, denn sie haben ja die gleichen Herausforderungen in der gleichen Welt bewältigt. Diese gemeinsamen Erfahrungen haben dafür gesorgt, dass sich im Laufe der Jahrzehnte eine eigene Subkultur mit eigenen sozialen Codes entwickelte, die mittlerweile einen festen Platz in der Pop-Kultur innehat. Grund genug um sich mit dieser Thematik auch vermehrt in der Wissenschaft zu befassen. Für den Kulturhistoriker Reinhold Wagnleitner, A. O. Professor am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg, sind PC- und Videospieler der nächste große Bereich, den es kulturhistorisch zu erforschen gilt. Darum sollte die Lehrveranstaltung „Kunst, Politik, Computerspiele“ von Sonja Prlic nur der Beginn einer Reihe von Lehrveranstaltungen zu dieser Thematik sein.
Thorsten Schimpl ( 2014): Kollektive Erinnerungen und fiktive Geschichte. Die Kulturgeschichte entdeckt das Gaming für sich.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 05 , https://www.p-art-icipate.net/kollektive-erinnerungen-und-fiktive-geschichte/