Zusammenfassung
Misst man die drei erwähnten Beispiele an den Begriffsbestimmungen von künstlerischer Intervention von Astrid Wege (2001) (* 12 ) und Christian Höller (1995a
(* 4 ) und b
(* 5 )) (s. Editorial des eJournals), so zeigt sich, dass diese weder der einen (Gegenbilder in die spätkapitalistischen Machtstrukturen einschleusen) noch der anderen (marginalisierte Gruppen unterstützen) eindeutig zugeordnet werden können.
VALIE EXPORT transferierte mit dem Tapp- und Tastkino den Kinoraum stark verkleinert in den öffentlichen Raum. Ihr Thema ist der – vorwiegend männliche – Blick auf den weiblichen Körper, den sie aus der Anonymität des dunklen Kinoraums direkt auf die Straße holt. Diese Arbeit lässt sich auch als interventionistische Praxis bezeichnen, weil sie unvorhergesehen in unterschiedlichen Städten auftrat und zeitlich auf ca. 30 Minuten beschränkt war. Das Setting der Aktion regelte die Teilhabe der PassantInnen klar, man kann davon ausgehen, dass den teilnehmenden Personen dieses zwar zunächst rätselhaft erschien, auf längere Sicht jedoch eine Veränderung bestimmter Wahrnehmungsmuster erzielt wurde.
Die Arbeit von Sanja Iveković Lady Rosa of Luxembourg provozierte eine bewusste Wahrnehmung des Nationaldenkmals durch seine Verdoppelung mit leichten Veränderungen und löste damit einen Diskussionsprozess um die ideologischen Grundlagen der luxemburgischen nationalen Identität aus. Auch hier geht es um das Bild und den Stellenwert der Frau im öffentlichen Raum, sowie um die Produktion divergenter Bilder, durch die die gewohnte Wahrnehmung in Frage gestellt wird. Die in Bezug auf den Kontext der Intervention in einen öffentlichen Raum mit Abstand radikalste Arbeit ist jene von Pussy Riot: Mit einer Punk-Performance im symbolischen Zentrum der russisch orthodoxen Kirche in Moskau, in der für die Befreiung der Herrschaft von Putin gebetet wurde, stellten die Künstlerinnen nicht nur den Staat und seine Repräsentanten, sondern ebenso die Hierarchien und die Gesetze der Kirche aufs Schärfste auf die Probe. Die drakonischen Strafen, die folgten, machten die Arbeit der Künstlerinnen weltweit publik, zeigen aber auch die Brutalität, mit der in Russland aktivistische KünstlerInnen verfolgt werden.
Die Grenzen zwischen künstlerischen Aktionen, Performances, Interventionen und politischen Aktivismus lösen sich heute zunehmend auf: Künstlerische Projekte sind aktivistische Projekte, wie z.B. Erdem Gündüz, Standing Man (Istanbul 2013), der acht Stunden lang im Gezi-Park regungslos auf ein Atatürk-Transparent blickte und in Folge von hunderten AktivistInnen nachgeahmt wurde, zeigt. Politischer Aktivismus wird in künstlerischen Arbeiten dokumentiert, kommentiert und multipliziert (z.B. Anna Jermolaewa: Methods of Social Resistance on Russian Examples, 2012, die die große Protestwelle in Russland im Jahr 2012 dokumentiert und das breite Spektrum an Methoden des sozialen Widerstands aufzeigt). Und manchmal kann Kunst auch als Schutzschirm für künstlerisch aktivistische Projekte/Interventionen fungieren, wie bei Pussy Riot.
Performative Praktiken und der öffentliche Raum spielen dabei im Kontext dieser Grenzverschiebungen und -auflösungen zwischen Kunst und Aktivismus eine entscheidende Rolle: Performative Praktiken sind, um es mit den Worten von Erika Fischer-Lichte zu sagen, ästhetische, soziale und politische Äußerungen gleichermaßen und werden in dieser Kongruenz ästhetisch erfahrbar. Ebenso ist der öffentliche Raum ästhetisch, sozial und politisch lesbar, weil sich nur dort die sozialen Bewegungen der letzten Jahre erst konstituieren konnten (Moskau, Ägypten, Istanbul, Brasilien etc.) und weil, um noch einmal auf Hannah Arendt zu verweisen, nur im öffentlichen Raum weltliche Wirklichkeit zuverlässig in Erscheinung treten kann.