Während ich im Gespräch die inhaltliche Richtung mitbestimme, verlasse ich mich räumlich völlig auf meine GesprächspartnerInnen, die die Route, das Ziel, die Geschwindigkeit*8 *(8) und die Länge unseres Gangs vorgeben. Indem ich mich von – mir bis dato – Fremden an unbekannte Orte führen lasse, stellt jedes Walking Interview eine Vertrauensübung dar. Wie lange wir gehen und wo der Walk endet, wird oftmals erst im Gehen entschieden. In der Umkehrung der Rollen von Interviewerin und Interviewten wird das Walking Interview für mich zu einem Forschungs-Dérive*9 *(9), in dem das Unvorhersehbare eine konstituierende Funktion bekommt (vgl. Bippus 2005: 24). (*1) Während ich mich neben meinen GesprächspartnerInnen durch eine unbekannte Umgebung treiben lasse, wird unsere Unterhaltung von dieser beeinflusst. Wie sich bei der Durchführung der Walking Interviews in verschiedenen räumlichen Umgebungen in unterschiedlichen europäischen Ländern gezeigt hat, erweist es sich schwieriger, sich in lauten und verkehrsreichen Umgebungen einem Gedankengang hinzugeben, als das in menschenleeren Naturlandschaften der Fall ist. Dennoch kommt es auch in ländlichen und nicht nur in urbanen Umgebungen zu unvorhersehbaren Störungen oder Ablenkungen, die zu Unterbrechungen des Gesprächs führen oder dieses in völlig neue Bahnen lenken indem aktuelle Begebenheiten besprochen bzw. neue Gedankenstränge und Fragen aufgegriffen werden. Während markante Einflüsse – wie beispielsweise der Straßenverkehr oder die Observierung durch die Polizei*10 *(10) – bereits beim Gehen bewusst wahrgenommen werden, bleiben Randerscheinungen oftmals unbemerkt, da die Konzentration zu sehr auf die/den jeweiligen GesprächspartnerIn fokussiert ist. Dass jedoch auch scheinbar unbedeutende Ereignisse, das Kreischen von Möwen oder das Scheppern von Geschirr Einfluss auf das Gespräch nehmen können, wird oftmals erst in den Tonaufnahmen deutlich. Indem die Aufmerksamkeit auf diese unerwarteten Ereignisse gelenkt wird, finden inhaltliche Ausführungen oftmals ein abruptes Ende. Somit kann festgestellt werden, dass sich erst im nachträglichen Hören die zwei bedeutungsgenerierenden Handlungsstränge, die Unterhaltung einerseits und die (Klang-)Landschaft der durchschrittenen Umgebung andererseits, in ihrer vollen Dimension und wechselseitigen Verquickung eröffnen. Die Aufnahmen werden im Normalfall*11 *(11) nicht nachbearbeitet oder gekürzt, um die Performance in ihrer tatsächlichen Dauer und situativen Einbettung wiederzugeben. Gleichzeitig wird in den Tonaufnahmen der Einfluss der Umgebung auf den Gang bzw. auf das Gespräch, die Auswirkung der physischen Betätigung auf den Körper – beispielsweise durch schweres Atmen – und die spezifische Atmosphäre zwischen den Sprechenden hörbar. Die zwischenmenschliche Komponente zeigt sich unter anderem in Form der Tonhöhe, des Tonfalls und der Wortwahl, aber auch in den nicht transkribierten Nebengeräuschen, wie beispielsweise Lachen. Da die Walking Interviews zumeist in einer intimen Atmosphäre zu zweit*12 *(12) stattfinden, ermöglichen es die Tonaufnahmen, die individuellen Begegnungen nachzuerleben bzw. in die Situationen miteingebunden zu werden. Im Akt des Zuhörens werden die RezipientInnen – zumindest imaginativ – Teil der Begegnung*13 *(13). In ihrer Gesamtheit stellen die Tonaufnahmen eine Bandbreite an unterschiedlichen Stimmen zum Thema des Gehens in der zeitgenössischen Kunst dar, die den aktuellen künstlerischen Diskurs prägen.
Brigitte Kovacs ( 2017): Feldgänge. Das (Be)Zeichnen des Felds der Walking Art. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/feldgange/