Kunst und Wissenschaft als Experiment
Über begriffsgeschichtliche Aspekte, Formen institutioneller Expansion und die Praxis von uncertainty-based arts
These 1: Der klärungsbedürftige Sammelbegriff ‚Experiment‘ steht, etymologisch gesehen, für zumindest zwei verschiedene Formen planvollen, versuchsweisen und ergebnisoffenen Handelns.
Das in künstlerischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen vielfach anzutreffende Wort ‚Experiment‘ bedarf der Klärung. Ein Beispiel: In musikalischem Kontext existiert zwar der in München gegründete Verein für experimentelle Musik,*3 *(3) zu dessen Initiativen ein seit 1996 entsprechend benanntes Festival und eine gleichlautende Zeitschrift zählen. Gleichwohl führte die Vereinsgründung bislang zu keinem Einvernehmen, was unter ‚experimenteller Musik‘ (nicht) zu verstehen sei.
Etymologisch beleuchtet (vgl. DWDS o.J.: o.S.) (*16) geht das Substantiv ‚Experiment‘ auf das lateinische ‚Experimentum‘ und das davon abgeleitete Verb ‚experīrī‘ zurück. Innerhalb der deutschen Sprache verblieb das Wort ‚Experiment‘ zunächst vorwiegend in medizinischen Kontexten – als Synonyme finden sich gleichermaßen ‚Versuch‘, ‚Probe‘ und ‚Beweis‘. So bürgerte es sich beispielsweise ein, in einem als ‚Experiment‘ bezeichneten Vorgang die Wirkung einer Arznei zu erproben.
Dass später nicht nur in medizinischen Kontexten und eben auch in künstlerischen Zusammenhängen zunehmend häufiger von Experimenten die Rede war, vermag nicht wirklich zu überraschen: Bis weit ins 18. Jahrhundert bestand die heute übliche konzeptionelle Unterscheidung zwischen ‚künstlerischen Handlungen’ und ‚Wissenschaft‘ nicht. Beispielsweise rühmt Joseph Haydn noch am 16. Februar 1785 Wolfgang Amadeus Mozart, dieser habe „Geschmack und über das noch die größte Kompositionswissenschaft“ (Feder 2005: 262). (*8)
Beim Versuch einer typologischen Bestimmung von Experimenten lässt sich mindestens zwischen zwei Formen unterscheiden: Realexperimente und Gedankenexperimente. Realexperimente finden intersubjektiv wahrnehm- und dokumentierbar statt, und zwar entweder im Labor oder im Feld.*4 *(4)
Die Durchführung von Realexperimenten verlangt ein Mindestmaß an ‚vorausschauender‘ Planung. Ebenfalls im neurobiologischen Sinn mental repräsentiert, jedoch auf erfahrungsbasierte Vorstellungen konzentriert sind hingegen Gedankenexperimente. Dabei handelt es sich weniger um vergleichsweise folgenlose Gedankenspiele oder gar um sogenannte Luftschlösser, deren Realisierung als nicht machbar gilt, sondern um nicht im empirischen Sinn intersubjektiv durchgeführte, jedoch empirisch prinzipiell realisierbare Versuchsanordnungen. Ihr Status kann als umstritten beschrieben werden: Einerseits liegen etliche prominente naturwissenschaftliche Erkenntnisse vor, deren Basis zunächst Gedankenexperimente waren; zu denken ist beispielsweise an Galileo Galileis Fallgesetze (Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze, 1638) oder Albert Einsteins Spezielle Relativitätstheorie (Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 1905). Andererseits wurde mangels empirischer Evidenz und infolge vager Methodik wiederholt grundsätzliche Kritik am Gedankenexperiment laut. Dies geht unter Umständen so weit, dass in Lexika wie dem 1996 erschienenen New Hacker’s Dictionary (*17)dem Wortteil ‚thought‘ die Synonyme „ungrounded; impractical, not well-thought-out“ zugeschrieben werden. (Vgl. auch Kühne 2005: 24) (*12) Die unterschiedliche Einschätzung ist Teil eines Diskurses, der in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. (Vgl. Macho/Wunschel 2004) (*13) Die Bedeutung rein gedanklicher Tätigkeit im Vorfeld sinnlich wahrnehmbarer künstlerischer Aktivitäten lässt sich beispielsweise mit Blick auf The Invisible Project (1969) veranschaulichen: James Turrell, Robert Irwin und Edward Wortz sprengten damalige Konventionen des Kunstbetriebs, als sie im Rahmen des am Los Angeles County Museum of Art installierten Art and Technology Program (1967-1971) ihr Projekt zwar durchführten, jedoch außer dem Transkript eines resümierenden Gesprächs und wenigen Fotos absichtsvoll nichts an die Öffentlichkeit dringen ließen. Folgt man dem Transkript, Recherchen von Douglas Davis (*6) oder der umfänglichen Dissertation von Christopher R. De Fay, (*7) so ging es bei The Invisible Project um Experimente über mentale Repräsentationen mit und ohne korrespondierende sinnliche Wahrnehmung (etwa in einem sogenannten schalltoten Raum).
Die Grenze zwischen Gedankenspielen und Gedankenexperimenten ist übrigens nicht immer leicht zu ziehen, zumal die hierfür maßgeblichen Vorannahmen in hohem Maß perspektivenabhängig sind. Beispielsweise sprechen sich Texte wie José Saramagos 2005 erstveröffentlichter Roman As intermitências da morte (*23) für die Möglichkeit aus, mit literarischen Mitteln die Vorstellung von Unsterblichkeit zu entwickeln. Saramago schildert mit satirisch-gespitzter Feder, wie in (nur) einem Land sozusagen über Nacht niemand mehr stirbt. Diesbezügliche Vorstellungstraditionen existieren spätestens seit den frühen Hochkulturen, beispielsweise im – ab dem 3. Jahrtausend im sumerisch-babylonischen Raum entstandenen – Gilgamesch-Epos, in dem vom Traum des König Uruk berichtet wird, zeitlich unbegrenzt zu leben, kurzum: Unsterblichkeit zu erlangen. (Vgl. Gratzer 2017) (*9) Der Germanist Karl S. Guthe hat diesen und zahlreichen weiteren literarischen Unternehmungen 2015 unter dem Titel Lebenszeit ohne Ende (*10)eine vergleichende kulturgeschichtliche Sammeldarstellung gewidmet.
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Sandra Umathum hat Wurms diesbezügliche Arbeiten 2011 instruktiv im Kontext mit künstlerischen Projekten von Felix Gonzalez-Torres (*1957 in Güaimaro Guáimaro, Kuba) und Tino Sehgal (*1976 London) diskutiert (Umathum 2011). Zu den Gemeinsamkeiten gehört die Strategie, imaginative Relationen zwischen Kunstgegenständen, Museumspersonal und Publikum künstlerisch zu gestalten.
Vgl. die Projektbeschreibung zum DFG-Projekt ‚Versuch‘ und ‚Experiment‘. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700-1960), online unter: http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/194110715 (1. April 2017).
Im Rahmen neuerer Feld- bzw. Aktionsforschung wird seit gut 20 Jahren auch eine Zwischenform etabliert, nämlich das zur Lösung drängender sozialer Probleme für gesellschaftliche Teilgruppen offene ‚Reallabor‘. Beispielsweise haben Uwe Schneidwind und Hanna Scheck 2013 in sozialwissenschaftlichem Kontext über „Die Stadt als ›Reallabor‹ für Systemänderungen“ publiziert. (Vgl. z.B. Schneidwind, Uwe/Scheck, Hanna 2013)
In Auftrag gegeben wurde diese Produktion von der im nordschwedischen Umeå angesiedelten Initiative Norrlandsoperan (http://norrlandsoperan.se/). Bei der Premiere in Stockholm wurde die Titelrolle nach nicht alltäglich verlaufenden Proben-Prozessen von Håkan Starkenber gestaltet.
Wolfgang Gratzer ( 2017): Kunst und Wissenschaft als Experiment. Über begriffsgeschichtliche Aspekte, Formen institutioneller Expansion und die Praxis von uncertainty-based arts. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-und-wissenschaft-als-experiment/