Kunst und Wissenschaft als Experiment
Über begriffsgeschichtliche Aspekte, Formen institutioneller Expansion und die Praxis von uncertainty-based arts
These 2: Real- und Gedankenexperimente erfahren seit dem 19. Jahrhundert eine zunehmende institutionelle Verankerung.
Es fällt auf, wie häufig in der jüngeren Geschichte der institutionellen Ausdifferenzierung wissenschaftlicher und künstlerischer Fächer auf den Experimentcharakter abgehoben wurde. Ich denke dabei an die Experimentalphysik, die sich in der Nachfolge u.a. von Galileo Galilei (1564–1642) oder Isaac Newton (1642–1726) sieht und als Prototyp einer auf Experimenten fußenden (Teil-)Disziplin gesehen werden kann. Laut DWDS (*15)fand der Begriff ‚Experimentalphysik‘ spätestens in den 1760er Jahren Verwendung. In vergleichbarer Form konnten sich im 19. Jahrhundert Teildisziplinen etablieren, die ‚Experiment‘ im Namen führen, wie die auf Versuche des dänischen Hobbyarchäologen Niels Frederik Bernhard Sehested (1813–1883) zurückgehende Experimentelle Archäologie oder die auf Arbeiten von Gustav Theodor Fechner (1801–1887) und Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821–1894) fußende Experimentelle Psychologie. Kant koppelte seinen Vernunftbegriff an die Praxis des Experimentierens, was die eben (unvollständig) angesprochene Entwicklung wohl ein Stück weit mit befördert hat. Wie auch immer, im 20. Jahrhundert entstanden des Weiteren die unter anderem auf Vernon L. Smiths Schriften der frühen 1960er Jahre zurückgehende Experimentelle Ökonomie (vgl. Smith 1962; (*28) Piasentin 2017 (*21)) oder die von Peter Cook (*5) 1970 initiierte Experimentelle Architektur, in der methodengeleitete Tests beziehungsweise Simulationen zum Einsatz gelangten. Vergleichbare Entwicklungen wie das seit 1957 dokumentierte Aufkommen einer Experimentellen Rechtswissenschaft (vgl. Beutel 1957) (*2) erscheinen wie Doppelpunkte für einen weiteren Schritt: das Aufblühen der auf Rekonstruktion der Entwicklung historischer Forschung zielenden Experimentellen Wissenschaftsgeschichte (*3). In den Worten der Herausgeber des gleichnamigen Sammelbandes fokussiert Experimentelle Wissenschaftsgeschichte „Aussagen über Handlungspraktiken der Wissenschaften, deren historischen Geräte und deren Materialien“ (Breidbach/Heering/Müller/Weber 2010: 13) (*4) und bezeichnet ihr rekonstruktives Vorgehen als ‚experimentell‘.
Vergleichsweise wenig etabliert, wenn auch da und dort zu bemerken, ist die Rede von einer Experimentellen Bild-, Literatur-, oder Musikwissenschaft. (Vgl. Hauptmeier/Schmidt 1985: 185) (*11) Das ist nur bedingt verständlich, wo doch spätestens seit den 1960er Jahren gehäuft zum Beispiel von ‚experimenteller Literatur‘, ‚experimenteller Musik‘, oder ‚experimenteller Fotografie‘ die Rede war. Freilich ging es hier nicht um Überprüfung oder Beweis im wissenschaftstheoretischen Sinn, sondern um als unkonventionell, neu- oder gar einzigartig eingeschätzte, jedenfalls antikanonische Versuchsanordnungen künstlerischen Tuns. Zu denken wäre im Bereich der Literatur unter anderem an die von der französischen Gruppe Oulipo verfolgte Idee einer Littérature Potentielle. (Vgl. Schleypen 2004) (*26) Diese Idee wurde beispielsweise vor nunmehr 50 Jahren in dem schmalen Buch Exercises de style (1947) des Literaten Raymond Queneau (1903–1976) realisiert. Diese und vergleichbare Arbeiten wurden 2016 in einem von Klaus Schenk, Anne Hultsch und Alice Stasková herausgegebenen, umfänglichen Sammelband differenziert dargestellt. (*25) Und gälte es pars pro toto eine Person zu nennen, schiene es mir naheliegend, an John Cage zu denken, der über Jahrzehnte gleichermaßen musikalisch, literarisch und bildnerisch aktiv war und da wie dort seine Konzepte aleatorischer Werkgenese realisierte, die – zumindest zunächst – als unkonventionell gelten können. Seine 1962 veröffentlichte Arbeit 0’00“ (4′ 33″ No. 2) zum Beispiel rührt erheblich an konventionellen Werk-Vorstellungen.
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Sandra Umathum hat Wurms diesbezügliche Arbeiten 2011 instruktiv im Kontext mit künstlerischen Projekten von Felix Gonzalez-Torres (*1957 in Güaimaro Guáimaro, Kuba) und Tino Sehgal (*1976 London) diskutiert (Umathum 2011). Zu den Gemeinsamkeiten gehört die Strategie, imaginative Relationen zwischen Kunstgegenständen, Museumspersonal und Publikum künstlerisch zu gestalten.
Vgl. die Projektbeschreibung zum DFG-Projekt ‚Versuch‘ und ‚Experiment‘. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700-1960), online unter: http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/194110715 (1. April 2017).
Im Rahmen neuerer Feld- bzw. Aktionsforschung wird seit gut 20 Jahren auch eine Zwischenform etabliert, nämlich das zur Lösung drängender sozialer Probleme für gesellschaftliche Teilgruppen offene ‚Reallabor‘. Beispielsweise haben Uwe Schneidwind und Hanna Scheck 2013 in sozialwissenschaftlichem Kontext über „Die Stadt als ›Reallabor‹ für Systemänderungen“ publiziert. (Vgl. z.B. Schneidwind, Uwe/Scheck, Hanna 2013)
In Auftrag gegeben wurde diese Produktion von der im nordschwedischen Umeå angesiedelten Initiative Norrlandsoperan (http://norrlandsoperan.se/). Bei der Premiere in Stockholm wurde die Titelrolle nach nicht alltäglich verlaufenden Proben-Prozessen von Håkan Starkenber gestaltet.
Wolfgang Gratzer ( 2017): Kunst und Wissenschaft als Experiment. Über begriffsgeschichtliche Aspekte, Formen institutioneller Expansion und die Praxis von uncertainty-based arts. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-und-wissenschaft-als-experiment/