Kunst und Wissenschaft als Experiment
Über begriffsgeschichtliche Aspekte, Formen institutioneller Expansion und die Praxis von uncertainty-based arts
These 4: Der Neologismus ‚uncertainty-based arts‘ wäre geeignet, den in vielen Fällen missverständlichen Begriff ‘experimentelle Kunst‘ zu ersetzen.
Künstlerischen Positionen wie jenen von Cage lässt sich mit guten Gründen das zuschreiben, was Philipp R. Herring 1987 mit Blick auf Joyce als „Uncertainty Principle“ (*38) thematisiert hat. ‚Uncertainty‘ ins Deutsche zu übersetzen, verlangt nicht alleine die Worte ‚Unbestimmtheit‹‚bzw. ‚Unklarheit‘ und damit ‚Ungewissheit‘ beziehungsweise ‚Unwägbarkeit‘ miteinzubeziehen, sondern auch ‚Verunsicherung‘ und nicht zuletzt ‚Fehler‘. Ein deutschsprachiges Wort, das all diese semantischen Schichten von ‚uncertainty‘ zum Ausdruck bringt, war mir bislang nicht auffindbar. Wie auch immer: In künstlerischen Zusammenhängen spielen Beweise im mathematischen, logischen oder juridischen Sinn wohl eher selten eine Rolle; (vgl. die Beispiele in der – lesenswerten – Dissertation von Annegret Huber) (*39) von daher schiene mir die Rede von ‚uncertainty-based arts‘ sinnvoller als jene von experimentellen Künsten, auch wenn es wie erwähnt schwer fällt, hierfür eine passende deutsche Übersetzung zu finden (‚Ungewissheitskunst‘ etwa schiene allzu verkürzend). Zwar stimme ich nicht mit Gunhild Berg überein, wenn diese angesichts des Einzugs des ‚Experiment‘-Begriffs in die Geistes- und Sozialwissenschaften mutmaßt: „Es hat den Anschein, als ob die Geisteswissenschaften (gleichgültig, ob via Definition, Verwendung, Methodik o.ä.) für ihren Anspruch kämpfen, am gesellschaftlich respektierten und prämierten (Natur-)Wissenschaftsdiskurs teilzuhaben.“ (Berg 2009: 70) (*1) Weiters will ich mit meinem Votum für ‚uncertainty-based arts‘ nicht aufs Neue die von Zeit zu Zeit auflodernde ‚Zwei Kulturen‘-Debatte über inkompatible Merkmale verschiedener Handlungskonzepte wie jenen wissenschaftlichen oder künstlerischen Tuns verlängern. Schon gar nicht will ich verkennen, dass sich Bedeutungszuschreibungen von Begriffen geschichtlich verändern können. So ist nicht zu übersehen, dass die Rede von experimentellen Handlungen in naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und eben auch künstlerischen Kontexten alltäglich geworden ist. Doch sollte es meines Erachtens nicht nur möglich sein, sondern auch als Ziel gelten dürfen, unterschiedsbasiert zu argumentieren, ohne sofort Konkurrenz-Affekte zu bedienen. Deshalb schlage ich ‚uncertainty-based arts‘ als Alternative zum vergleichsweise missverständlichen Begriff ‚experimentelle Kunst‘ vor.
Mag es als schwierig oder gar aussichtslos erscheinen, eine Alternative zum Begriff ‚experimentelle Kunst‘ zu etablieren, so bleibt die Änderung doch möglich. Ich komme damit noch einmal auf Teil 1 meiner Überlegungen zurück. Erwin Wurms Kommentar zu seiner aktuellen Grazer Ausstellung Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach könnte Widerstand hervorrufen; beispielsweise ließe sich einwenden, dass im Falle von Wurms insgesamt höchst erfolgreicher Karriere von Risiko schwerlich die Rede sein kann – jedenfalls insofern nicht, als doch dessen Karriere nach konventionellen Kunstmarkt-Kriterien überaus erfolgreich verläuft.
Vor diesem Hintergrund ist zu fragen: Was bedeutet ‚Risiko‘? Und was bedeutet ‚Risiko‘ im Zusammenhang mit Experimenten? Hierzu ein letztes Mal ein Ausflug in die Etymologie: vulgärlat. ‚Resecum‘ wurde zunächst verwendet, um die Felsklippe, sodann allgemeiner eine Gefahr anzusprechen. Spätestens im 16. Jahrhundert fand das Wort Eingang in die Kaufmannssprache, um dort kalkulatorisches Wagnis zu benennen. (vgl. DWDS: o.S.) (*19) Hierauf fußen heutige Begriffsverwendungen, wonach dann von ‚Risiko‘ gesprochen wird, wenn im Zuge einer Handlung oder im Zuge der Unterlassung einer Handlung etwas aufs Spiel gesetzt wird, und damit ein „möglicher negativer Ausgang bei einer Unternehmung, mit dem Nachteile, Verlust, Schäden verbunden sind“ (vgl. Duden: o.S.) (*18), droht.
Nun ist Wurms ‚angesagte’ Kunstarbeit Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach wohl schwerlich geeignet, sich in drastischer Weise nachteilig für den Künstler selber, den Kurator beziehungsweise die veranstaltende Institution oder gar das Publikum auszuwirken. Pekuniäre Schäden scheinen beispielsweise nicht ausgeschlossen, aber eher unwahrscheinlich, auch wenn sich Wurms Wortskulpturen nicht wie zum Beispiel seine Skulpturengruppe Selbstporträt als Essiggurkerl (2008) verkaufen lassen. Noch viel weniger ist an gesundheitliche Schäden zu denken, zumal die verhaltene Lautstärke der Ansagen weder AkteurInnen noch Publikum bedroht. Und doch geht Wurm ein Risiko ein, und zwar insofern, als er mit dem teilweisen Verzicht auf konventionelle Kunstgegenstände die Vorstellung der BesucherInnen zwar durch die Wortwahl semantisch stimuliert, diese aber weitgehend frei sind, ihre „mentalen Versuchsanordnungen“ (Macho/Wunschel 2004: 14) (*14) zu gestalten, im Extremfall Wurms Wortskulpturen als belanglos einzuschätzen und sich etwa mangels Interesse davon abzuwenden.
Berg, Gunhild (2009): Zur Konjunktur des Begriffs “Experiment“ in den Natur-, Sozial-, und Geisteswissenschaften. In: Eggers, Michael (Hg.): Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Bielefeld: transcript, S. 51–82.
Beutel, Frederick K. (1957): Some potentialities of experimental jurisprudence as a new branch of social science, Lincoln: Univ. of Nebraska Press. Dt.: Ders. (1971): Die experimentelle Rechtswissenschaft. Möglichkeiten eines neuen Zweiges der Sozialwissenschaft (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung 21). Berlin: Duncker u. Humblot.
Breidbach, Olaf (2010): Experimentelle Wissenschaftsgeschichte. München: Fink.
Breidbach, Olaf /Heering, Peter /Müller, Matthias /Weber Heiko (Hg.) (2010): Experimentelle Wissenschaftsgeschichte. München: Fink (Laboratorium Aufklärung 3), S. 13.
Cook, Peter (1970): Experimental Architecture, New York: Universe Books.
Davis, Douglas (1973): Art and the Future. A history-prophecy of the collaboration between science, technology and art, New York: Praeger / London: Thames & Hudson , S. 161-166.
Dt.: Ders. (1975): Vom Experiment zur Idee: Vom Experiment zur Idee. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Zeichen von Wissenschaft und Technologie. Analysen, Dokumente, Zukunftsperspektiven, Köln: DuMont Schauburg, S. 201-207.
De Fay, Christopher R. (2005): Art, enterprise, and collaboration: Richard Serra, Robert Irwin, James Turrell, and Claes Oldenburg at the Art and Technology Program of the Los Angeles County Museum of Art, 1967-1971 [Thesis]. University of Michigan.
Feder, Georg (2005): (Franz) Joseph Haydn. In: Gruber, Gernot / Brügge, Joachim (Hg.): Das Mozart Lexikon (Das Mozart-Handbuch 6). Laaber: Laaber-Verlag , S. 260-267.
FWF-Der Wissenschaftsfonds (2016): Strategische Vorhaben 2017-2020. Wien: Fonds zur Forderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF). Online unter: https://www.fwf.ac.at/fileadmin/files/Dokumente/Ueber_den_FWF/Publikationen/FWF-relevante_Publikationen/fwf_strategiepapier-2017-2020.pdf
Daniel Gethmann (2010) (Hg.): Klangmaschine zwischen Experiment und Medientechnik. Bielefeld: transcript.
Gratzer, Wolfgang (2017): Sine fine. Künstlerisches Handeln an den Grenzen des Denkens. In: [Tagungsbericht] Grenzen in den Wissenschaften (Österreichischer Wissenschaftstag, 20. – 22.10. 2016, Semmering), i.Dr.
Guthke, Karl. S. (2015): Lebenszeit ohne Ende: Kulturgeschichte eines Gedankenexperiments in der Literatur. Würzburg: Königshausen und Neumann.
Herring, Phillip F. (1987): The Uncertainty Principle. Princeton, N.J: Princeton University Press.
Hauptmeier, Helmut / Schmidt, Siegfried J. (1985): Einführung in die empirische Literaturwissenschaft, Braunschweig / Wiesbaden: Vieweg, S. 185.
Huber, Annegret (2006): Das ‚Lied ohne Worte‘ als kunstübergreifendes Experiment. Eine komparatistische Studie des Instrumentalliedes 1830-1850 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 41). Tutzing: Schneider.
Kühne, Ulrich (2005): Methode des Gedankenexperiments (stw 1742). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Macho, Thomas /Wunschel, Annette (Hg.) (2004): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt/M.: Fischer.
Macho, Thomas/Wunschel, Anette (2004): Mentale Versuchsanordnungen. In: Dies. (Hg.): Science & Fiction, S. 9-14.
O.V. (2013): Extending the concept of opera through technology. Online unter: https://www.kth.se/en/aktuellt/nyheter/sanghandsken-du-vill-hora-mer-av-1.381545 (12. April 2017).
O. V. (o.J.): DWDS: Experimentalphysik. Online unter: https://www.dwds.de/r?q=Experimentalphysik;corpus=public;format=full;p=4;sort=date_desc;limit=50 (1. April 2017).
O.V. (o.J.): DWDS: Experiment. Online unter: https://www.dwds.de/r/plot?q=Experiment (1. April 2017).
O.V. (o.J.): Gedanken. In: Eric S. Raymond, New Hacker’s Dictionary, Version 4.4.2. Online unter: https://archive.org/stream/jarg422/jarg422.txt (20. April 2017).
O.V. (o.J.): Risiko. In: Duden. Online unter: http://www.duden.de/suchen/dudenonline/Risiko (12. April 2017).
O.V. (o.J.): Risiko. In: DWDS. Online unter: https://www.dwds.de/wb/Risiko(1. Februar 2017).
Palma, Félix J. (2010): Die Landkarte der Zeit. Hamburg: Kindler.
Piasentin, Paolo (2017): Experimental Economics. History and potential application in logistic, Saarbrücken: LAP LAMBERT Academic Publishing.
Pomerance, Bernard (1991): Elephant Man. A drama. Oxford: Heinemann.
Saramago, José (2005): As intermitências da morte. São Paulo: Companhia das Letras.
Dt.: Ders. (2007): Eine Zeit ohne Tod. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Schäfer, Jerome Philipp (o.J.): Freak – Sensation – Star. Zu Mythos, Determiniertheit und Aura des John Merrick in David Lynchs The Elephant Man. online unter: http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/kino/kino_pdf/schaefer_merrick.pdf , S. 3 und 15.
Schenk, Klaus/Hultsch, Anne/Stasková Alice (Hg.) (2016): Experimentelle Poesie in Mitteleuropa: Texte – Kontexte – Material – Raum, Göttingen: VR.
Schleypen, Uwe (2004): Schreiben aus dem Nichts. Gegenwartsliteratur und Mathematik. Das Ouvroir de littérature potentielle, München: Meidenbauer (Romania viva 1).
Schneidwind, Uwe/Scheck, Hanna (2013): Die Stadt als „Reallabor“ für Systemänderungen. In: Rückert-John, Jana (Hg.): Soziale Innovation und Nachhaltigkeit. Perspektiven sozialen Wandels, Wiesbaden: Springer, S. 229-248.
Smith, Vernon L. (1962): An Experimental Study of Competitive Market Behavior. In: Journal of Political Economy, 70 (1962), H. 2, S. 111-137.
Sparks, Christine (1981): Der Elefantenmensch. Roman. München: Heyne 1981.
Umathum, Sandra (2011): Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal. Bielefeld: transcript.
Unander-Scharin Carl (2015): Extending opera. Artist-led explorations in operatic practice through interactivity and electronics. Stockholm: Computer Science and Communication / KTH Royal Institute of Technology. Online unter: http://kth.diva-portal.org/smash/record.jsf?pid=diva2%3A781856&dswid=-3837
Unander-Scharin, Carl/ Höök, Kristina/Elblaus, Ludvig (2013): The Throat III – Disforming Operatic Voices Through a Novel Interactive Instrument: In: CHI’13 Extended Abstracts on Human Factors in Computing Systems ACM, New York 2013, S. 3007–3010.
Wurm, Erwin (2017): tief Luft holen und Luft anhalten. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König.
Wurm, Erwin (2017): Zitat aus dem ORF-Bericht Erwin Wurms Tribut an die „alte Heimat“ (ö1-Kulturjournal, 23. März 2017, verschriftlicht online nachzulesen: http://steiermark.orf.at/tv/stories/2832938/ (24. März 2017).
Sandra Umathum hat Wurms diesbezügliche Arbeiten 2011 instruktiv im Kontext mit künstlerischen Projekten von Felix Gonzalez-Torres (*1957 in Güaimaro Guáimaro, Kuba) und Tino Sehgal (*1976 London) diskutiert (Umathum 2011). Zu den Gemeinsamkeiten gehört die Strategie, imaginative Relationen zwischen Kunstgegenständen, Museumspersonal und Publikum künstlerisch zu gestalten.
Vgl. die Projektbeschreibung zum DFG-Projekt ‚Versuch‘ und ‚Experiment‘. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700-1960), online unter: http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/194110715 (1. April 2017).
Im Rahmen neuerer Feld- bzw. Aktionsforschung wird seit gut 20 Jahren auch eine Zwischenform etabliert, nämlich das zur Lösung drängender sozialer Probleme für gesellschaftliche Teilgruppen offene ‚Reallabor‘. Beispielsweise haben Uwe Schneidwind und Hanna Scheck 2013 in sozialwissenschaftlichem Kontext über „Die Stadt als ›Reallabor‹ für Systemänderungen“ publiziert. (Vgl. z.B. Schneidwind, Uwe/Scheck, Hanna 2013)
In Auftrag gegeben wurde diese Produktion von der im nordschwedischen Umeå angesiedelten Initiative Norrlandsoperan (http://norrlandsoperan.se/). Bei der Premiere in Stockholm wurde die Titelrolle nach nicht alltäglich verlaufenden Proben-Prozessen von Håkan Starkenber gestaltet.
Wolfgang Gratzer ( 2017): Kunst und Wissenschaft als Experiment. Über begriffsgeschichtliche Aspekte, Formen institutioneller Expansion und die Praxis von uncertainty-based arts. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-und-wissenschaft-als-experiment/