Kunst und Wissenschaft als Experiment

Über begriffsgeschichtliche Aspekte, Formen institutioneller Expansion und die Praxis von uncertainty-based arts

These 3: Für diskursiv-dokumentarisch ausgerichtete Formen künstlerischer Forschung sind Experimente konstitutiv.

In bestimmten künstlerischen Zusammenhängen – wie dem breiten Spektrum der Künstlerischen Forschung (Artistic Research) – ist zu erkennen, dass experimentelles Handeln konstitutiv wirkt und es eine zunehmende institutionelle Verankerung erfährt. Ein Beispiel: Carl Unander-Scharin (*1964) realisiert seit Jahrzehnten Projekte mit signifikanten Experiment-Anteilen.*5 *(5)(Vgl. Gethmann 2010)star (*34) Der schwedische Komponist, lyrische Tenor und Dirigent studierte in Erweiterung seiner bisherigen Arbeitsfelder ab 2010 in Stockholm an der KTH (The Royal Institute of Technology). Er brachte sein PhD-Projekt über Extended Opera star (*31) 2015 in Zusammenarbeit mit dem Stockholmer University College of Opera zum Abschluss. Der Titel erklärt sich aus der Bestrebung, Realisierungspraktiken des Musiktheaters anlassbezogen zu erweitern. Kommen dabei digitale Techniken zum Einsatz, spricht Unander-Scharin seine ‚extended operas‘ gerne als ‚electronic operas‘ an. So auch im Falle des Musiktheaters The Elephant Man (2009-2012 / UA 2012 in Umeå, 12 Aufführungen)*6 *(6), dessen Thema die historische Person Joseph Merrick (1862-1890) war, der wegen seiner eklatant progressiven körperlichen Deformationen zu Lebzeiten als ‚Elephant Man‘ bezeichnet (und vermarktet) wurde. Dieses Phänomen hat mehrfach künstlerisches Interesse gefunden,  unter anderem in Romanen von Christine Sparks (1981), Bernard Pomerance (1991) und Félix J. Palma (2010). (Vgl. Sparks 1981;star (*29) Pomerance 1991;star (*22) Palma 2010star (*20)) Da wie dort wird das unter kommerziellen Gesichtspunkten ‚erfolgreiche‘ Schicksal Merricks als das eines gesellschaftlichen Außenseiters und eines zunächst allgemeinen, später auch medizinischen „Objektes der Schaulust“ (Schäfer o.J.: 3 und 15)star (*24) dargestellt. Verschiedene popmusikalische Interpretationen bieten sich für einen Vergleich an, darunter der Song Psychiatric (1991) der französischen Sängerin Mylène Farmer, ein Album des amerikanischen Gitarristen Buckethead (2006), sowie drei – auf drei Alben verteilte – Songs der amerikanischen Speed-Metalband Mastodon (2002, 2004, 2006).

In allen genannten Fällen wurden – mehr oder weniger klischeeverhaftet – Perspektiven auf Merrick angeboten. Der doch deutlich andere Ansatz von Unander-Scharin bestand wesentlich darin, zu einer passenden, jedenfalls nicht verharmlosenden szenisch-akustischen Darstellung zu finden. Es sollte nicht nur eine Perspektive auf Joseph Merrick, sondern auch einer Perspektive von Joseph Merrick eröffnet und dessen körpersprachliche Artikulationsmöglichkeiten Thematisierung erfahren werden. In der Einsicht, dass hierfür konventionelles Instrumentarium schwerlich geeignet sei, entwickelte und testete das Künstlerpaar Carl und Åsa Unander-Scharin sukzessive verschiedene Formen sogenannter ‚artificial body voices‘. Der Ausgangspunkt in den Worten von Unander-Scharin: “My concern was, how would it be possible to write an opera about someone who could hardly speak and who certainly couldn’t sing? […] It would not make sense to have him portrayed by the sheer beauty of an operatic voice if you don’t take that particular disability into consideration.” (Zit. n. O.V. 2013: o.S.;star (*35) vgl. auch Unander-Scharin/Höök/Elblaus 2013star (*36))

Die Serie von Experimenten findet sich in seiner Dissertation ausführlich dokumentiert und damit zur Diskussion gestellt. (Vgl. Uander-Sharin 2015: 71ff.)star (*31) Am Ende all dieser Prozesse fiel die Entscheidung zugunsten von „The Throat III“. In Anlehnung an Merricks besonders deformierte Hand wird hierbei an der rechten Hand des Sängers eine interaktive Verbindung zwischen Stimme und Handbewegung möglich.
Künstlerische Forschung, wie im Falle der eben angesprochenen Aktivitäten Unander-Scharins verstanden als Sammelbegriff für diskursiv-dokumentarische Versuchsanordnungen in Bereichen künstlerischen Handelns, korreliert mit dem voraussichtlich 2017 zur Ausschreibung freigegebenen 1000 Ideen Programm des österreichischen Fonds wissenschaftlicher Forschung. Ohne Einschränkung auf traditionelle Wissenschaftsgebiete dient das FWF-Programm dabei ganz grundsätzlich der Förderung „besonders risikoreicher Forschungsideen“ (FWF 2016: 8; 19).star (*37) Das lässt erwarten, dass dieses Programm eine Türe zu dem öffnet, was ich im Folgenden unter dem Begriff der ‚uncertainty-based arts‘ diskutiere.

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Wurm, Erwin (2017): Zitat aus dem ORF-Bericht Erwin Wurms Tribut an die „alte Heimat“ (ö1-Kulturjournal, 23. März 2017, verschriftlicht online nachzulesen: http://steiermark.orf.at/tv/stories/2832938/ (24. März 2017).

Sandra Umathum hat Wurms diesbezügliche Arbeiten 2011 instruktiv im Kontext mit künstlerischen Projekten von Felix Gonzalez-Torres (*1957 in Güaimaro Guáimaro, Kuba) und Tino Sehgal (*1976 London) diskutiert (Umathum 2011). Zu den Gemeinsamkeiten gehört die Strategie, imaginative Relationen zwischen Kunstgegenständen, Museumspersonal und Publikum künstlerisch zu gestalten.

Vgl. die Projektbeschreibung zum DFG-Projekt ‚Versuch‘ und ‚Experiment‘. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700-1960), online unter: http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/194110715 (1. April 2017).

Vgl. http://www.experimentelle-musik.info/ (13. März 2017).

Im Rahmen neuerer Feld- bzw. Aktionsforschung wird seit gut 20 Jahren auch eine Zwischenform etabliert, nämlich das zur Lösung drängender sozialer Probleme für gesellschaftliche Teilgruppen offene ‚Reallabor‘. Beispielsweise haben Uwe Schneidwind und Hanna Scheck 2013 in sozialwissenschaftlichem Kontext über „Die Stadt als ›Reallabor‹ für Systemänderungen“ publiziert. (Vgl. z.B. Schneidwind, Uwe/Scheck, Hanna 2013)

Unander-Scharins Experimente ließen sich kontextualisieren und als Teil einer epochenübergreifenden Geschichte des experimentellen Instrumentenbaus beschreiben. Für instruktive Hinweise zu dieser Geschichte vgl. Daniel Gethmann 2010.

In Auftrag gegeben wurde diese Produktion von der im nordschwedischen Umeå angesiedelten Initiative Norrlandsoperan (http://norrlandsoperan.se/). Bei der Premiere in Stockholm wurde die Titelrolle nach nicht alltäglich verlaufenden Proben-Prozessen von Håkan Starkenber gestaltet.

Wolfgang Gratzer ( 2017): Kunst und Wissenschaft als Experiment. Über begriffsgeschichtliche Aspekte, Formen institutioneller Expansion und die Praxis von uncertainty-based arts. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/kunst-und-wissenschaft-als-experiment/